Jugendroman von K. J. Reilly :
Wildtier im Scheinwerfer

Von Steffen Gnam
Lesezeit: 3 Min.
Unverkennbar Elivs: Kostümsammlung in Graceland
Wenn eine Pilgerfahrt zur Katharsis führt: In ihrem Jugendroman „Das Verhalten ziemlich normaler Menschen“ entwirft K. J. Reilly ein Quartett trauernder Menschen, die gemeinsam nach Graceland fahren und sich dort ihrer Vergangenheit stellen.
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Schon der erste Satz der Geschichte über Liebe und Verlust, Trauer und Trauerarbeit der amerikanischen Autorin und studierten Psychologin K. J. Reilly umreißt die Tragik von Menschen, die einen anderen verloren haben. Im Chor der Wohlmeinenden reagiert die Umwelt mit Durchhalteparolen, Ermahnungen, Plattitüden und gesamtgesellschaftlichem Versagen im Sprechen über das Tabu und die „kosmische Ungerechtigkeit“ des Todes.

Reillys Roman ist die Freundschaftsgeschichte einer ungleichen Trauergemeinschaft. Vier Menschen aus New Jersey, die Selbsthilfegruppen für Trauernde besuchen, repräsentieren verschiedene Arten des Trauerns und des Umgangs mit privaten Apokalypsen. Im Zentrum steht der siebzehnjährige impulsive Asher, der auch nach über einem Jahr den Unfalltod der Mutter durch einen betrunkenen Sattelschlepperfahrer nicht verwunden hat und auf Rache sinnt. Bei ihm sind seine etwa gleichaltrigen Freunde, der intellektuell-verschlossene Will und die nur äußerlich taffe Motorradliebhaberin Slo­ane, die ihren Bruder respektive Vater an den Krebs verloren. Während Will sich in Kierkegaards Philosophie der existenziellen Verzweiflung flüchtet, bewacht Slo­ane aus Angst, sie würden nicht mehr atmen, den Schlaf ihrer kleinen Schwestern. Das melancholische Trio ergänzt der alterseinsame Henry, der seine Frau Evelyn als Urne in einer Schachtel überallhin mitnimmt und für sie sogar im Restaurant Pfannkuchen bestellt.

K. J. Reilly: „Das Verhalten ziemlich normaler Menschen“. Roman. Aus dem Englischen von Ute Mihr. dtv Reihe Hanser, München 2024. 352 S., geb., 16,– €. Ab 14 J.
K. J. Reilly: „Das Verhalten ziemlich normaler Menschen“. Roman. Aus dem Englischen von Ute Mihr. dtv Reihe Hanser, München 2024. 352 S., geb., 16,– €. Ab 14 J.dtv Reihe Hanser

Präzise schildert das Buch den Strudel aus Wut, Schmerz, Schuld, Selbstmitleid und das Chaos, das tote Menschen in uns hinterlassen. Es evoziert Entfremdung von der nichttrauernden Umwelt (Ashers Mitschüler sehen ihn an „wie ein wildes Tier im Scheinwerferlicht“) und den Tod als Ende der Welt der Hinterbliebenen, aber auch wiedergewonnenes Weltvertrauen und sich am Horizont abzeichnende Möglichkeitsräume eines „Danach“.

Mit Bedacht gewählter Sehnsuchtsort

Unter dem Vorwand, dem Elvis-Fan Henry dessen Lebenstraum einer Gracelandfahrt zu erfüllen, plant Asher mit ihm, Evelyn und den einer Ablenkung nicht abgeneigten Will und Sloane eine Reise nach Memphis. Allerdings hatte Asher den Unfallfahrer als in Memphis wohnend gegoogelt: Per Facebook wurde er zum Fake-Online-Lover seiner Tochter Grace. Während er vorgibt, sie zum Prom-Ball zu begleiten, will er ihren Vater mit einem Baseballschläger töten. Aber auch Will und Sloane haben eigene Reisemotive.

Memphis als Stadt des Blues und Sehnsuchtsort der Trauernden ist mit Bedacht gewählt. Den Roadtrip in Trümmerlandschaften der Seele umfängt das Ambiente ruinierter Einkaufszentren mit Likörbars und Waffengeschäften, Gegenden voll Armut und Glücksspiel. Den Soundtrack bilden Popsongs wie Paul Simons Lied „Graceland“ („And my travelling companions are ghosts and empty sockets“). Zugleich stehen die Südstaaten, „wo sie alles Saure irgendwie süß machen“, für Wandel und Hoffnung jenseits kurzfristiger Rachephantasien.

Grenzenüberwindende Gemeinschaft

Die Konfrontation mit der Familie des Unfallfahrers und der ob des Catfishings verwirrten, doch bald ihr Leid als Tochter eines fahrlässig dem Alkohol verfallenen Vaters ausschüttenden Grace führt zum überraschenden Finale. Der Roadtrip von New Jersey nach Memphis – ein Leitmotiv des Resilienzromans ist dabei der „Löwenzahn, der einen Riss im Beton gefunden hat“ – führt die Protagonisten in Weckerlebnissen zu schmerzhaften oder symbolgeladenen Orten der Vergangenheit: Im Fall Wills sind es die Pandas im Zoo von Memphis, wo sein Bruder, kurz bevor ihm die Eltern die Krebsdiagnose mitteilten, posierte. Und Sloane möchte anstelle ihres Vaters dessen Traum, mit einer Harley die Beale Street herunterzubrettern, ausleben.

Die Grenzen überwindende Gemeinschaft der Lebenden und Toten – ein Symbol hierfür ist Elvis, der in den Verschwörungstheorien oder auch nur den Wünschen seiner Fans am Leben ist – relativiert das Angstbehaftete der letzten Dinge und die Endgültigkeit des Tods. Das Quartett lernt, dass es kein richtiges oder falsches Trauern gibt und „dass wir mehr sind als unser Verlust“.

Reillys Roman findet für junge und alte Leser eine Reihe wohldosierter Trostworte. Es ist ein Plädoyer für beschützende Freunde als Geburtsrecht und die Vielfalt der Arten des Loslassens und Abschiednehmens: „Ich darf traurig sein, wenn traurig sich richtig anfühlt – sogar sehr traurig –, nur nicht so traurig, dass die Trauer mich kaputtmacht. Niemals so traurig, dass die Trauer mich kaputtmacht.“

K. J. Reilly: „Das Verhalten ziemlich normaler Menschen“. Roman. Aus dem Englischen von Ute Mihr. dtv Reihe Hanser, München 2024. 352 S., geb., 16,– €. Ab 14 J.
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