Lieferdienste : Immer mit einem Bein im Krankenhaus
Schon die erste Liefertour für den Dienst Foodora endet für Orry Mittenmayer im Desaster. Mehr als eine halbe Stunde zu spät kommt der frisch gebackene Essenskurier beim indischen Restaurant in Köln an; die App hatte ihn zur falschen Adresse gelotst. Als Entschädigung für die Verspätung geben ihm die Mitarbeiter im Restaurant noch Suppen für die Kundschaft mit – in „sichtbar schlecht verschlossenen Plastikdosen“. Der Rest der Geschichte erzählt sich fast von selbst: Natürlich reißt die Tüte im Büro des Kölner Finanzdienstleisters, dessen Mitarbeiter Lust auf Indisch hatten. Ein unangenehmes Telefonat mit der Zentrale und ein Einsatz mit dem Putzlappen später wird Mittenmayer wohl das erste Mal klar, auf welchen Job er sich da eingelassen hat.
Was er zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß: dass ihn die Tätigkeit, mit der er sich das Abitur an der Abendschule finanzieren will, später einmal zum Vorsitzenden des ersten Betriebsrats eines Lieferdienstes in Deutschland machen wird, zum Symbol einer ganzen Bewegung, zum Gast von Talkshows – und zum Autor eines Buches.
In „Ausgeliefert“ schildert Mittenmayer, wie die Unzulänglichkeiten in den Geschäftsmodellen der Lieferdienste den Arbeitsalltag der Kuriere beeinflussen. Deren Konzept war einfach, in der Ausführung entpuppte es sich gleichwohl als recht kompliziert: Kunden bestellen online Essen bei ihren Lieblingsrestaurants, Fahrradkuriere – die sogenannten „Rider“ – liefern es nach Hause. Nur: Die Fahrradfahrer konnten eben nicht plötzlich fliegen, auch wenn sich die Anbieter mit den Versprechen kurzer Lieferzeiten immer stärker unterboten. Und sie trafen dann auf enttäuschte Kunden und auf wütende Gastronomen, die den Lieferdiensten üblicherweise stattliche Provisionen zahlen. Investoren haben, in der Hoffnung auf das große Geschäft, Hunderte Millionen in Essenslieferdienste gepumpt. Doch auch wenn das Kundeninteresse stets vorhanden war, zumal während der Corona-Pandemie, mussten die meisten Anbieter feststellen: Profitabel zu arbeiten ist schwierig. Das Geschäft ist personalintensiv. Dementsprechend lassen sich dort die meisten Kosten sparen.
Den ganzen Tag unter Zeitdruck
Folglich hätten die jungen Unternehmen ihre Kuriere unter Druck gesetzt und an ihnen gespart, berichtet Mittenmayer. Das Smartphone und das Rad mussten die Kuriere selbst stellen, alle Reparaturen selbst bezahlen. Um die tausend Euro habe der Autor jährlich zur Pflege seines Fahrrads ausgegeben. Damit sei noch weniger vom Mindestlohn geblieben. Zwar habe Foodora Arbeitskleidung gestellt, die sei aber billig und nicht für alle Temperaturen geeignet gewesen. Also hätten sich die Rider auch eigene Funktionskleidung besorgt.
Gleichzeitig habe der Algorithmus des Lieferunternehmens das Arbeitsleben bestimmt. Wer Fahrten abgelehnt habe, sei dafür mittelfristig vom Algorithmus mit unattraktiven Touren bestraft und in Feedbackgesprächen mit Büroangestellten zu diesem Verhalten befragt worden. Ständig habe das Handy gebimmelt, eine kurze Toilettenpause sei keine Selbstverständlichkeit gewesen. Und wer sich während einer Fahrt mehrere Minuten nicht vom Fleck bewegte, musste mit einem Anruf aus der Zentrale rechnen. Das war überhaupt nur möglich, weil der Arbeitgeber die Bewegungen der Rider mithilfe von GPS und seiner App auf Schritt und Tritt überwacht habe.
„Als Rider unter Zeitdruck steht man immer mit einem Bein im Krankenhaus“, schreibt Mittenmayer. Viele Rider hätten ihr Smartphone in der Hand gehalten, weil die von Foodora gestellte Handyhalterung so schlecht gewesen sei, dass die Telefone regelmäßig bei voller Fahrt auf den Boden fielen. Eines Tages sei auch er angefahren worden und glücklicherweise mit blauen Flecken davongekommen. Schnell rief ein Dispatcher aus der Zentrale an, weil das GPS-Signal des Kuriers sich nicht mehr bewegte. „Weißt du, ob das Essen noch heil ist?“, soll der gefragt haben, nachdem Mittenmayer ihm eröffnete, dass er ins Krankenhaus fahre. „Kannst du es noch selbst ausliefern, oder soll ich jemand anderen vorbeischicken?“
Ein Kampf gegen das „paternalistische Bildungssystem“
Derartige Vorfälle motivierten Mittenmayer und einige seiner Mitfahrer später – dann gegen den Widerstand des neuen Arbeitgebers Deliveroo –, Deutschlands ersten Betriebsrat eines Lieferdienstes zu gründen. Mit der Kampagne „Liefern am Limit“ wurde Mittenmayer schließlich deutschlandweit bekannt, zunächst über soziale Medien, später besuchten immer wieder Politiker wie Arbeitsminister Hubertus Heil die Aktivisten.
Heute ist der große Hype vorbei. Lieferando hat sich als Branchenführer gehalten, mit Uber Eats ist ein finanzstarker amerikanischer Wettbewerber dazugekommen. Foodora und Deliveroo – die Unternehmen, für die Mittenmayer fuhr – gibt es in Deutschland schon lange nicht mehr, und mit Gorillas oder Getir kamen und gingen, eine Ausnahme ist hier Flink, in der Zwischenzeit auch die schnellen Lieferdienste für Supermarktprodukte. Und auch Mittenmayer ist heute nicht mehr als Lieferfahrer aktiv, er studiert im Master Politikwissenschaften und engagiert sich ehrenamtlich für die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten, die die Rider damals auch beim Aufbau eines Betriebsrats unterstützte. Die Arbeitsbedingungen sind seitdem für Essenskuriere deutlich besser geworden.
„Ausgeliefert“ ist in erster Linie keine investigative Enthüllungsgeschichte über die Praktiken der Lieferbranche. Vielmehr handelt es sich um einen streng subjektiven Erfahrungsbericht. Es geht viel um Mittenmayers Jugend als schwarzer und hörgeschädigter junger Mann in Deutschland, um seinen Kampf gegen das „paternalistische Bildungssystem“.
Die pointierten Anekdoten sind meist unterhaltsam und persiflieren oft zutreffend den „Spirit“ junger „Entrepreneure“ in der deutschen Start-up-Szene zum damaligen Zeitpunkt. Manchmal übertreibt Mittenmayer es allerdings ein wenig mit der Gewerkschaftsfolklore; wenn es um die politischen Schlüsse aus seinen Erfahrungen geht, verliert er sich häufig in Allgemeinplätzen. „Wär’ ich nicht arm, wärst du nicht reich“, zitiert er dann zum Beispiel Brecht. Heute sei das aktueller denn je, schließlich öffne sich die „Schere zwischen Arm und Reich“ seit Jahren weiter.
Seine politischen Ausführungen verknüpft Mittenmayer mal mehr, mal weniger geschickt mit seinen Erfahrungen als Rider, sie bleiben aber stets recht einseitig. Unternehmen führen darin meist grundlegend Böses im Schilde, und die ständigen Seitenhiebe auf Anhänger einer liberalen Marktwirtschaft strapazieren die Geduld des Lesers.
Viele dürften die Argumente für eine starke gewerkschaftliche Organisation wohl schon einmal vernommen haben oder können sie im Zweifel auch in einem Positionspapier des Deutschen Gewerkschaftsbundes nachlesen. Das ist auch deshalb umso ärgerlicher, weil Mittenmayers Schilderungen für sich selbst sprechen – und die Leser eigene Schlüsse daraus ziehen könnten. Stattdessen liefert er vorhersehbare Folgerungen gleich mit. Anhand seiner Erlebnisse wolle er die Leser auf eine Reise mitnehmen, an „deren Ende Sie zu der Überzeugung kommen mögen, dass Gewerkschaften, soziale Gerechtigkeit und Arbeitskämpfe“ eben keine „langweiligen Relikte der Vergangenheit“ seien, sondern im Gegenteil: „Es sind hochaktuelle, wichtige und zeitlose Themen.“ Das schreibt Mittenmayer schon im Prolog. Es mag stimmen, ist in dieser Form aber doch arg plakativ.