Die Hymne
Gerechtigkeit für Günter Grass! Doch, doch, es gibt auch Stellen, die wir hier vom Archiv ganz gerne gelesen haben. Damals. Als Grass sich noch nicht völlig auf die Meinungs- und Empörungsproduktion spezialisiert hatte. Ja, es gibt da Stellen in seinem Werk, die lassen wir uns von niemandem schlechtreden. Noch nicht einmal von Günter Grass. Weil nämlich da, wo viel Schatten ist, zumindest auch ein bisschen, ein kleines Licht sein muss, wollen wir hier, ausnahmsweise, nicht tadeln, nicht spotten, nicht pöbeln (der sogenannte Literaturbetrieb gibt in dieser Saison ja wenig her; zum Chaos im Kopf von Kathrin Röggla fällt uns so wenig ein wie zum abgespreizten kleinen Finger in der Prosa jenes Fritz J. Raddatz, der gestern in der "Süddeutschen Zeitung" bekannt hat, dass er den Existentialismus nie verstanden habe. Ach so, dachten wir uns nur, das ist natürlich bitter!), wir wollen auch mal loben. Gut finden. Die Ehre retten. Die des armen Heinz Strunk, nur zum Beispiel. Sein "Fleisch ist mein Gemüse" war so ein großer und herzergreifender Erfolg. "Die Zunge Europas" konnte noch gar nicht richtig gewürdigt werden. Und dann das: "Fleckenteufel", in der Originaloptik von Charlotte Roches "Feuchtgebieten". Wenn er es wenigstens "Fürze sind meine Hämorrhoiden" genannt hätte. Das, also der Titel, die Aufmachung, das war fast so falsch, so unangenehm, so traurig wie Bodo Kirchhoffs "Erinnerungen an meinen Porsche", schon weil das, was hier Porsche heißt, auch wieder nur das ist, wovon Freud behauptet hat, dass die Frauen neidisch darauf seien. Das, was männliche Schriftsteller im Moment so plagt, dass sie ganz dringend mal auf eine Couch gelegt werden müssten, ist offensichtlich der Neid auf die Feuchtgebiete, und, ja: Es ist schrecklich, peinlich, schlimm. Und dafür haben sie ja alle auch ordentlich was auf die Mütze bekommen. Aber schade und tragisch ist es eben auch, weil es ansonsten gar keine so schlechten Bücher sind. Strunks Thema, das sind ja nur nebenbei die Flatulenzen; und in der Hauptsache ist es die erschütternde Wahrheit über evangelische Jugendfreizeitfahrten; und da ist Strunk wieder ein ganz großer Meister der lebensweltlichen Enge und Bedrückungen. Pickel hin, Sekrete her - das wirklich Eklige ist immer noch die Welt, in der sie ausgedrückt werden. Und da gibt es im Moment kaum jemanden, der einen so großartig in Grund und Boden deprimieren kann wie eben Strunk. Wer sich von Büchern Glück und Lebensfreude erwartet, soll gefälligst zum Arzt gehen. Zu Dr. med. Hirschhausen zum Beispiel, der unter Fernsehzuschauern und den Besuchern von Buchmessepartys zu Recht als Nervensäge gefürchtet ist. Und der, wenn er dann ein Buch schreibt, von der sogenannten Hochkultur nicht ernst genommen wird. „Die Zeit“ mokierte sich schon darüber, dass der Verlag, als er das Buch in die Redaktionen schickte, dem Paket noch eine Tafel Schokolade beigelegt hat und einen Stoffpinguin. Wir hier im Archiv haben die Schokolade gegessen, den Pinguin dem Neffen geschenkt und uns gedacht: ja, eine Flasche Whisky hätten wir auch nicht zurückgeschickt. Es geht ums Glück in Hirschhausens weisem Buch, beziehungsweise: es geht eigentlich um eine Anleitung, nicht dauernd unglücklich zu sein, und das mit der Schokolade war gar keine Bestechung. Es war ein Laborversuch: Wer sich nicht freuen kann über eine Tafel Schokolade, hat nicht nur schlechte Laune, sondern ist ein schlechter Mensch. Wenn da, wo Dr. Hirschhausen drin ist, nicht auch noch Dr. Hirschhausen außen drauf wäre, man würde sein Buch sogar bei langen S-Bahn-Fahrten durch Berlin studieren. Das trauen wir uns dann aber eben doch nicht. Da verstecken wir es lieber im Umschlag eines anderen Buches. Zur Not zum Beispiel dem von Klaus-Dieter Baumgarten, und das ist immerhin die „Autobiographie des Chefs der Grenztruppen der DDR“. Endlich mal kein defätistisches Gejammer, da kann sich Günter Schabowski (“Wir haben fast alles falsch gemacht“) mal eine Scheibe von abschneiden! Sondern: „ein exklusives Zeugnis fortdauernder deutscher Zweistaatlichkeit“. Das ist mal ein Klappentext, von dem Martin Sonneborn nur träumen kann. Überhaupt stapeln sich die Neuerscheinungen zu zwanzig Jahren Mauerfall hier bei uns in Berlin-Mitte jetzt auch schon wieder zu einem ganz ansehnlichen Schutzwall, und es werden täglich mehr. Wir warten jetzt praktisch nur noch darauf, dass Juli Zeh ihren Beitrag abliefert, und dann wird sofort losgelesen, fest versprochen. Bis dahin haben wir aber hoffentlich noch ein Minütchen; das schenken wir nämlich lieber Elke Heidenreich, der wir im Moment gar nicht genug Trost und Zuspruch spenden können. Ihre „Passione - Liebeserklärung an die Musik“ zog schon Kollegengespött auf sich, als sie kapitelweise in der F.A.Z. erschienen war. Zu Unrecht. In ihrer Reportage aus Glyndebourne zum Beispiel hatte Heidenreich das deutsche Musikkritikertum mit seiner „reinen Lust am Fertigmachen“ mal ganz grundsätzlich verhauen, um anschließend die in Deutschland meistgespielte Händeloper „Giulio Cesare“, weil sie sie just in Glyndebourne erstmals erleben durfte, als eine „selten gespielte“ Rarität zu rühmen. Mehr Händel in Deutschland, forderte Heidenreich damals, nebenbei auch wieder mehr „erotische Abenteuer in den Logen“. Wie recht sie hatte und immer noch hat, das zeigt sich jetzt im Händeljahr, das wir wahrscheinlich letztlich Heidenreich verdanken. Nun hagelt es endlich wieder Händel an allen deutschen Stadttheatern, was in den Logen los ist, können wir leider von hier aus schlechter beurteilen. Das müssen wir zum Glück auch gar nicht, denn für so was haben wir ja unseren Lehrer Dr. Precht, und der ist gewissermaßen da zu Hause, wo es drunter und drüber geht - beim Denken genauso wie beim Zwischenmenschlichen. An „Wer bin ich, und wenn ja, wie viele“ hatte uns immerhin schon der Name sehr beeindruckt, und was drinsteht, wird wohl auch nicht so viel schlechter sein als die drei Millionen Bücher, die einen vor Precht schon in populärem Ton in die Philosophie einführen wollten. Jetzt freuen wir uns über „Liebe - ein unordentliches Gefühl“, und zwar freuen wir uns vor allem deshalb, weil wir die Kernbotschaft auch hier bereits aus dem Titel deduzieren können: Dass ein gesunder, anständiger Hass demgegenüber ein sehr ordentliches Gefühl sein muss, das tröstet und gibt Zuversicht.