Im Dienst der Reportage :
Kinder, Kriege und immer wieder Frauen

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Traurige Tropen: Deffarge & Troellers „Ressources naturelles puit de petrole Bahia, Brasilien“, 1961
Mit ihrem journalistischen Werk erreichten sie ein Millionenpublikum: Die Ausstellung „Deffarge & Troeller“ im Museum Folkwang feiert die Reportage als Werkzeug der Aufklärung.
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Hatte die Redaktion des „Stern“ einfach noch nicht mitbekommen, dass das neunzehnte Jahrhundert seit gut fünfzig Jahren vorüber war? Als der damalige Chefredakteur Henri Nannen den Journalisten Gordian Troeller 1959 vom Konkurrenzblatt „Revue“ abwerben wollte, musste er Marie-Claude Deffarge ebenfalls einstellen, denn Troeller und Deffarge arbeiteten als Team. Fortan wurde Troellers kongeniale Partnerin beim „Stern“ als einzige Fotografin geführt, erhielt aber anders als ihre männlichen Kollegen keinen eigenen Namensstempel, um ihre Abzüge zu kennzeichnen. Außerdem wurde ihr Vornamen verkürzt: Aus der Fotografin Marie-Claude wurde der Fotograf Claude, so wie im neunzehnten Jahrhundert aus Charlotte Bronte ein Currer Bell und aus Mary Anne Evans ein George Eliot geworden war, der vermeintliche Autor von „Middlemarch“. Im neunzehnten Jahrhundert sollten Frauen keine Romane publizieren, in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts sollten sie offenbar nicht fotografieren.

Der Kampf um Aufmerksamkeit und Anerkennung währte ein Journalistinnenleben lang, denn Deffarge stand immer im Schatten Troellers, obwohl Troeller nicht wenig dafür tat, dies zu ändern. Und so ist es nicht nur ein Gebot der alphabetischen Reihenfolge, sondern auch ein Akt nachholender Gerechtigkeit, dass im Titel der ersten großen Ausstellung, die dem Duo gewidmet ist, Marie-Claude Deffarge an erster Stelle genannt wird.

Ein journalistisches Lebenswerk aus fünf Jahrzehnten

„Deffarge & Troeller. Keine Bilder zum Träumen. ,Stern’-Reportagen und Filme“ ist eine sehr materialreiche Ausstellung, die Zeit, Geduld und die Bereitschaft zur Lektüre auch längerer Ausstellungstexte erfordert. Wer sich außer den etwa dreihundert Fotografien, zahlreichen Schriftstücken und persönlichen Dokumenten auch die ausführlichen Filmdokumente ansehen möchte, kann mühelos einen ganzen Tag im Museum Folkwang verbringen, denn die Schau dokumentiert ein journalistisches Lebenswerk, das im Verlauf von fünf Jahrzehnten entstand und mehr als hundert Reportagen und etwa achtzig Dokumentarfilme umfasst. Damit es entstehen konnte, mussten Deffarge und Troeller nicht nur etwa sechzig Ländern bereisen, sondern auch ein internationales Netzwerk aufbauen und umfangreiche Recherchearbeiten vor Reisebeginn leisten. Vor allem mussten sie lernen, die eigene Perspektive in Frage zu stellen. Wie ist er beschaffen, unser Blick auf die Welt, und was hat ihn geprägt?

Troeller, 1917 in Lothringen geboren, arbeitet im Spanien der Franco-Diktatur als Auslandskorrespondent, verhilft einem baskischen Widerstandskämpfer zur Flucht, flieht mit seiner jüdischen Ehefrau vor den Nazis nach Lissabon, wo beide für eine jüdische Flüchtlingshilfsorganisation arbeiten, bevor er vom niederländischen Geheimdienst angeworben wird. Nach Kriegsende arbeitet Troeller als Korrespondent in verschiedenen europäischen Ländern, bevor er 1952 zusammen mit Marie-Claude den Iran bereist, wo die gemeinsame journalistische Arbeit ihren Anfang nimmt.

Zwei Kameras, eine Perspektive? Marie-Claude Deffarge und Gordian Troeller, um 1965
Zwei Kameras, eine Perspektive? Marie-Claude Deffarge und Gordian Troeller, um 1965dpa

Als die beiden sich kennenlernen, ist Deffarge, die 1924 in Paris geboren wurde, mit fünfzehn Jahren Abitur machte und Mitglied einer anarchistischen Partei wurde, als Studentin der Archäologie und Ethnologie an der Sorbonne eingeschrieben, gehört aber zu einer reisenden Flamenco-Truppe, die auch schon in Iran aufgetreten war. Seit diesen Auftritten unterhält Deffarge Verbindungen zu einflussreichen Familien des Landes. Mit Troeller unternimmt sie nun ausgedehnte Reisen im Landesinneren, wo sie sich einer Gruppe von Nomaden anschließen, mit denen sie sechs Monate lang zusammenleben. Jetzt beginnt sich ihr Blick zu weiten: Sie lernen, die eigene Perspektive mit fremden Augen zu betrachten.

Deffarge und Troeller: Zwei durch die Verwerfungen des Zweiten Weltkriegs entwurzelte anarchistische Köpfe, die den Kommunismus durchschaut hatten, aber ihre Sympathien für linke Projekte beibehielten, die den Einzelnen höher schätzten als den Staat, dem er unterworfen war, die jeder Form von Macht misstrauten, auch und gerade der Macht der Männer über die Frauen und der Erwachsenen über die Kinder. Als Journalisten, die der Reportage den Rang eines Werkzeugs der Aufklärung zuschrieben, stießen sie in der jungen Bundesrepublik auf ein neugieriges, welthungriges Publikum, im „Stern“ auf eine Redaktion, die ihnen zumindest einige Jahre lang weitgehend freie Hand bei der Auswahl ihrer Themen ließ und in Radio Bremen auf einen öffentlich-rechtlichen Fernsehsender, der seinen Zuschauern zur Hauptsendezeit gesellschafts- und kapitalismuskritische Dokumentationen aus aller Welt zuzumuten wagte und Erfolg damit hatte.

Marie-Claude Deffarge, aus der Reportage „Paradies der Frauen, Hölle der Männer“, Peru, erschienen 1964 im Rahmen der „Stern“-Serie: „Frauen dieser Welt“
Marie-Claude Deffarge, aus der Reportage „Paradies der Frauen, Hölle der Männer“, Peru, erschienen 1964 im Rahmen der „Stern“-Serie: „Frauen dieser Welt“Ingrid Becker-Ross Troeller

Deffarge und Troeller berichteten über Armut in Süditalien, Ausbeutung in Brasilien, den Vietnamkrieg und den Bürgerkrieg in Eritrea, über Widerstands- und Autonomiebewegungen in verschiedenen Ländern Afrikas, Südamerikas und des Mittleren Ostens. Für den „Stern“ produzierten sie zwischen 1964 und 1966 die Serie „Die Frauen dieser Welt“ in 25 Folgen, für Radio Bremen Anfang der Achtzigerjahre die zwölfteilige Filmreihe „Frauen der Welt“. Die letzte große Reihe, „Kinder der Welt“, wurde 1984 begonnen und 1999 nach 36 Filmen aus 30 Ländern beendet.

Marie-Claude starb bereits 1984, einige Jahre zuvor hatte sich das Paar privat getrennt. Gordian Troeller lebte nun mit Ingrid Becker-Ross zusammen, die als Tonfrau und Rechercheurin an vielen Produktionen mitwirkte. Sie hat das journalistische Erbe von Deffarge & Troeller gleich zwei Mal gerettet, zunächst, als Troeller sein Archiv im Zuge eines Umzugs wegwerfen wollte, und dann noch einmal 2017, als sie den fotografischen Nachlass mit 4.800 Abzügen und etwa 100.000 Negativen und Diapositiven dem Museum Folkwang überantwortete, während der filmische Nachlass vom Luxemburger Centre national de l’audiovisuel betreut wird. Dort wird die in deutsch-luxemburgischer Koproduktion entstandene Schau im nächsten Jahr zu sehen sein.

Früher und hartnäckiger als andere stellten Deffarge und Troeller die Frage nach den ökonomischen und ökologischen Lasten, die eine westliche Lebensweise den Ländern der damals sogenannten „Dritten Welt“ aufbürdete. Sie behandelten viele Themen ihrer Zeit, die auch Themen unserer Zeit sind. Ihr journalistisches Ethos, das Anteilnahme voraussetzte und Stellungnahme verlangte, widersprach dem damals üblichen Streben nach Objektivität, war aber gleichwohl weit entfernt vom sich moralisch überlegen dünkenden Aktivismus jüngerer Zeit. Deffarge und Troeller gaben im Laufe ihrer Arbeit dem Film den Vorzug vor der Fotografie, weil sie ihn für das wahrhaftigere, die Realität umfassender und objektiver erfassende Medium hielten. Es ist ein wenig schade, dass die ansonsten sehr differenziert vorgehende und auch medienhistorisch spannende Ausstellung ausgerechnet diese weitreichende Einschätzung zu wenig hinterfragt. Aus heutiger, also aus digitaler Sicht mag sie nachvollziehbar erscheinen. Aber ihre Unschuld hatten auch die bewegten Bilder längst verloren.

Deffarge & Troeller – Keine Bilder zum Träumen. Museum Folkwang Essen, bis 23. Februar. Der materialreiche, aber wenig lesefreundliche Katalog kostet 48 Euro.
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