Lesen light

Gina Thomas
Ein Kommentar von
Lesezeit:

Ein Handy haben die meisten Schüler, aber lesen können nicht mehr alle so richtig: Im englischen Schulsystem stirbt die Lektüre der klassischen Texte langsam aber sicher aus. Den Schulbibliotheken droht ein ähnliches Schicksal.

Martin Amis hat die lange Lektüre als „sterbende Kunst“ bezeichnet. Die vielen Ablenkungen hielten selbst kultivierte Menschen vom Lesen ab, meint der britische Schriftsteller. Seine Beobachtungen stimmen mit den Entwicklungen im Englischunterricht auf der Insel überein. Die verkürzte Aufmerksamkeitsspanne bewegt viele Lehrer, ihren unter dem Druck der Schulrankings auf Prüfungen getrimmten Schülern keine vollständigen Werke mehr zuzumuten. Eine große Prüfungsbehörde stellte unlängst fest, dass das Studium eines ganzen Romans für die mittlere Reife „so etwas wie eine Seltenheit“ geworden sei.

Stattdessen werden Auszüge aus vornehmlich nach 1900 geschriebenen Texte gewählt, was Bildungsminister Michael Gove das Aussterben der klassischen Literatur im Unterricht beklagen lässt. Er macht das beengte Prüfungssystem, das Ethos des kleinsten gemeinsamen Nenners und die Kultur des „Lasst uns nicht zu anspruchsvoll sein“ dafür verantwortlich, dass Kinder nicht mehr zum Lesen ermutigt werden. Seit 2000 ist Britannien in der Lese- und Schreibfähigkeit vom 7. auf den 25. Platz abgesunken. Britische Schulkinder besitzen eher ein Mobiltelefon als ein Buch.

Fünfzig Bücher im Jahr, die Amerikaner machen es vor

In den Vereinigten Staaten hat Gove kürzlich beobachtet, wie die mit öffentlichen Geldern finanzierten, privat geführten Charter Schools unterprivilegierte Kinder herausfordern, fünfzig Bücher im Jahr zu lesen. Schülern werde nahegelegt, stets ein Buch dabei zu haben, damit sie jede leere Minute ausnutzen können. Gove will britische Kinder durch ähnliche Initiativen an die Literatur heranführen. Seine Kritiker verweisen höhnisch auf die Bibliotheken in Schulen und Kommunen, die dem Sparprogramm der Regierung zum Opfer fallen sollen.

Dabei sind es die Gemeinderäte, die Büchereien schließen wollen, statt die überhöhten Saläre ihrer Vorsitzenden zu beschneiden, die annähernd das Doppelte des Premierministers verdienen. Und kein Regierungserlass hat den Leiter von Berkhamsted, jener Privatschule, die Graham Greene zu ihren ehemaligen Eleven zählt, gezwungen, den Sinn einer Schulbibliothek in Frage zu stellen. Die Stunde habe geschlagen, die Zukunft liege im E-Buch, verkündete dieser unlängst. Seine Schüler zögen Wikipedia den klassischen Nachschlagewerken vor, weil die Intenet-Enzyklopädie „schneller, leichter und wahrscheinlich nicht weniger genau“ sei.

Für die meisten sei die Bibliothek ein stiller Platz, wo sie arbeiten oder das Internet nutzen könnten. Damit ginge die Phantasie von Louis-Sébastien Mercier vorzeitig in Erfüllung. In seinem 1771 veröffentlichten Zukunftsroman, „L'an 2440“, besucht der Schriftsteller eine königliche Bibliothek, die aus einem kleines Kabinett mit wenigen Bänden besteht. Vom Bibliothekar des 25. Jahrhunderts erfährt Mercier, dass der Bestand auf das Wesentliche reduziert worden sei.

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