Pop-Anthologie: „Sweet Jane“ :
Die bösen Mütter sind an allem schuld!

Lesezeit: 6 Min.
Lou Reed im Jahr 1973 in Paris
Der Song „Sweet Jane“ von Velvet Underground ist Lou Reeds gesangliche Meisterleistung. Er enthält einige der besten Urlaute der Rockmusik. Der Text macht es einem nicht so leicht, doch die Botschaft ist klar.
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Von Zeit zu Zeit muss man seine Lieblings-Playlists beim Musikstreaming mal durchforsten. Auch die besten Lieder werden irgendwann langweilig und dann regelmäßig übersprungen. Für „Sweet Jane“ von Velvet Underground, geschrieben von Lou Reed und auch nach seinem Bandausstieg immer wieder von ihm auf der Bühne interpretiert, gilt das nicht. Vor allem die Aufnahme von 1970 auf dem Velvet Underground-Album „Loaded“ ist immer wieder eine Freude.

Das Stück ist wegen seiner stark performativen Elemente gerade in der kurzen Album-Version eine Art Mini-Musical mit vielen Untertönen, die weit über die übliche Interpretation von Pop- und Rockmusik hinausgehen. Es enthält einige der besten Laute in der Geschichte des Rock („Huh!“, „woah“, „oh-oh-oh-oh-uh!“) und erinnert insgesamt an Lieder wie „I Put a Spell on You‘“ von Screamin' Jay Hawkins oder „Disco“ von Udo Lindenberg, ist aber in der Erzählhaltung noch unkonventioneller. Was passiert eigentlich genau in diesem Song? Je genauer man hinhört, desto mehr Rätsel stehen im Raum.

Urlaute des Gefühls

Legendär ist schon das suchende, orchesterprobenhafte Geklimpere zu Beginn der Plattenaufnahme von 1970, das stellenweise fast an chinesische Musik erinnert. Dann setzt sich ein stampfender, zugleich schleppender Rhythmus durch, ein einprägsames Riff schält sich heraus, geradliniger Rock 'n' Roll verbindet sich mit Prä-Punk-Energie.

Lou Reed, dessen gesangliche Offbeats hier an die übermütigsten von Bob Dylan erinnern – gelegentlich schwingt er sich sogar zu angedeuteten Country-Jodlern empor –, variiert artistisch die Silbenanzahl in den Versen. Er rafft und längt sie auch mithilfe von Interjektionen und Urlauten in einer Weise, die deutlich macht, dass die Unberechenbarkeit und das Gefühl oberste Prinzipien sind.

In den ungeraden Strophenzeilen hebt er am Ende die Stimme, in den geraden senkt er sie künstlich oder zieht die letzten Silben in die Länge. Saubere Reime gibt es so gut wie keine – das langgezogene „hand/band“ in der ersten Strophe sowie „clerk/work“ sind eine Ausnahme. Stattdessen kommt viel Reimähnliches wie „times/eyes“ vor, was dem Text einen größeren Assoziationsraum öffnet.

Figuren aus einer wilderen Vergangenheit

Meisterhaft, wie knapp in den ersten Versen eine distanziert beobachtende und trotzdem bewegliche Erzählerposition entworfen wird:

Standin' on the corner
Suitcase in my hand
Jack is in his corset, Jane is in her vest
And me, I'm in a rock 'n' roll band
Huh!

Der singende Erzähler steht und schaut an der Ecke, sein Koffer deutet auf eine Situation des Übergangs hin. Kennt er Jack und Jane und beobachtet sie live oder haben wir es mit einem vergegenwärtigenden Rückblick im Präsens zu tun? Weiter ist fraglich, ob Jacks „corset“ metaphorisch gemeint oder als crossdressing zu verstehen ist – Jane trägt Weste.

Letzteres vorausgesetzt, tut sich eine Parallele zu Lou Reeds vielleicht bekanntestem Song auf, zu „Take A Walk on the Wild Side“, in dem der Sänger auf eine Reihe von Underground-Künstlern und ihre Verwandlung zurückblickt. In dieser Perspektive betrachtet, könnten Jack und Jane Figuren aus einer wilderen Vergangenheit sein, die der Sänger als Rock-Musiker begleitete.

Rebellische Parole mit lustvollen Untertönen

Und zu dieser Lesart würden auch der Oldtimer „Stutz Bearcat“ und die darauffolgenden Verse passen. Sie wären parodistischer Rückblick auf eine „gute alte Zeit“, die ein Aufbegehren verdient hatte.

Riding in a Stutz Bearcat, Jim
You know, those were different times
Oh, all the poets they studied rules of verse
And those ladies, they rolled their eyes

Wer aber ist der angesungene Jim? Darauf kommen wir später zurück. Hier nur so viel: Er ist nach unserem Verständnis ebenfalls ein Überbleibsel aus dieser vergangenen Zeit.

Der nun folgende Refrain wird vom Sänger wie eine rebellische Parole mehr geschrien als gesungen, die genussvollen Interjektionen fügen hedonistische, lustvolle Untertöne hinzu.

Sweet Jane, woah
Sweet Jane, ooh oh
Sweet Jane

Offen bleibt zunächst die Frage, ob die „Sweet Jane“ identisch mit der Jane der ersten Strophe ist. Schon in der zweiten erfahren wir mehr über Jack und Jane. Sie führt uns, so kann man es zumindest auffassen, in die Gegenwart:

Let me tell ya somethin', Jack, he is a banker
And Jane, she is a clerk
And both of them save their monies

Hah, and when, when they come home from work
Ooh, sittin' down by the fire, oh
The radio does play the classical music there, Jim
The March of the Wooden Soldiers
All you protest kids, you can hear Jack say, ah

Get ready, ah

Jack und Jane haben betont bürgerliche Berufe: Er ist Banker, sie Büroangestellte – Reed betont das „clerk“ fast so abwertend wie ein „jerk!“. Anschließend entwirft er eine gemütliche Feierabendszene am Kaminfeuer mit klassischer Musik und macht durch das höhnische „ooh“ in der Mitte deutlich, dass es ihm bei so viel Behaglichkeit kalt über den Rücken läuft.

Eine Klischee-Falle?

Dann aber schlägt die Strophe um. Plötzlich werden „all you protest kids“ angesprochen, die gefälligst dem vermeintlich langweiligen Banker Jack beim Singen zuhören sollen. Aus vollem Hals erschallt dann abermals der Refrain. Der Sänger bildet mit Jack – „Sweet Jane“ scheint (auch) seine Jane zu sein – einen Chor und lädt mit „get ready“ auch die „kids“ ein.

Sweet Jane, ah, come on, baby
Sweet Jane, oh-oh-oh-oh-uh!
Sweet Jane

Diese Wendung rückt die zweite Strophe in ein neues Licht. Hatte der Erzähler mit der spießigen Wohnzimmeridylle etwa nur der jungen Protestgeneration von 1970 eine Klischee-Falle stellen wollen, vorwegnehmend, dass sie oberflächlich und abfällig auf die arbeitende Bevölkerung blicken würde, von deren Sehnsüchten, vielleicht auch Abgründen sie nichts ahnt?

Perspektivwechsel dieser Art finden sich häufig in den Songs von Lou Reed, in der dritten Strophe ist es nicht anders:

Some people, they like to go out dancin'
And other peoples, they have to work, just watch me now
And there's even some evil mothers
Well, they're gonna tell you that everything is just dirt
You know that women never really faint
And that villains always blink their eyes, ooh
And that, you know, children are the only ones who blush
And that life is just to die

Manche gehen gerne zum Tanzen, andere müssen arbeiten. Das ist unbestreitbar. Eine hübsche Pointe aber ist, dass der Sänger sich selbst zur letzten Gruppe zählt, arrogant ist er wirklich nicht. Aus einer allgemeinen Bemerkung heraus entwickelt er das eigentliche Feindbild des Songs. Es gibt da nämlich noch diese bösartigen Mütter, die einem mit ihrer negativen Grundhaltung und ihrem Schubladendenken den Spaß am Leben verleiden.

Lebensweisheit und Empathie

Den Rest der Strophe, die gleichsam Teil des Refrains wird, singt Reed mit großer Inbrunst, als handle es sich um die zentrale Aussage des Songs. Wieder gesellt sich eine Zweitstimme hinzu:

But anyone who ever had a heart
Oh, they wouldn't turn around and break it

And anyone who ever played a part
Oh, they wouldn't turn around and hate it

Diese Passage scheint auf Jack und Jane gemünzt, doch kann den nun folgenden Refrain im Grunde jeder mitsingen, „anyone who ever had a heart“.

Sweet Jane, oh woah
Sweet Jane
Sweet Jane …

Genüsslich wird am Schluss die Komplexität der drei vorherigen Strophen in einem langanhaltenden Refrain eingestampft, so scheint es. Doch die aufwendige Multiperspektivität der Strophen behält tiefe Lebensweisheit und Empathie, ungewöhnlich für einen Popsong. Die gemeinsame Botschaft von Strophen und Refrain: Es gilt, sich mit inbrünstiger Kunst des unzureichenden Alltagslebens zu erwehren.

Eine 1995 nachträglich veröffentliche Langfassung des Songs enthielt vor dem Outro noch ein selbst für Velvet-Underground-Verhältnisse schräges Zwischenstück („Heavenly wine and roses / Seem to whisper to her when he smiles …“), das weitere Rätsel aufgibt. Für uns ist es insofern interessant, als es auf eine stark abweichende frühere Textversion von „Sweet Jane“ verweist. Diese stammt wohl aus dem Jahr 1969, wurde erst 1974 auf einem Live-Album veröffentlicht und vor allem durch die Cover-Version der Cowboy Junkies von 1988 bekannt, auch nicht schlecht ist die von Miley Cyrus.

Da muss selbst Lou Reed lachen

Im Text der Neunundsechziger-Version spielt „Jim“ noch eine weit größere Rolle als in der „Loaded“-Fassung. Angedeutet wird eine Liebeskummerthematik, die den Ansatz bestärkt, dass es auch in der „Loaded“-Fassung um einen wehmütigen Blick zurück geht.

Anyone who's ever had a heart
Wouldn't turn around and break it
And anyone who's ever played a part
Wouldn't turn around and hate it
Sweet Jane, sweet Jane
Sweet, sweet Jane

You're waiting for Jimmy down in the alley
Waiting there for him to come back home
Waiting down on the corner
And thinking of ways to get back home
Sweet Jane, sweet Jane
Sweet, sweet Jane

Anyone who's ever had a dream
Anyone who's ever played a part
Anyone who's ever been lonely
And anyone who's ever split apart
Sweet Jane, sweet Jane
Sweet, sweet Jane

Heavenly wine and roses
Seem to whisper to me when you smile
Heavenly wine and roses
Seem to whisper to me when you smile

Lou Reed hat „Sweet Jane“ in seiner Laufbahn sehr oft gespielt. Berühmt geworden ist auch die Pariser Live-Version aus dem Jahr 1973 mit ihrem auslandenden Gitarrenintro.

Dass man den Song auch mit Altersmilde interpretieren kann, zeigt diese bemerkenswerte Akustik-Version aus späterer Zeit.

Und die „Hymne auf das Leben“ kommt am besten in einem Auftritt von Lou Reed mit Metallica aus dem Jahr 2009 zum Tragen, bei dem man den ja immer etwas finster dreinblickenden Sänger ob des ganzen Rock-’n’-Roll-Spektakels an einer Stelle sogar lachen sieht.

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