Faszination Fußball : Nachspielzeit

Keine Tore, keine Spannung, kaum Torchancen – und dennoch tobt das Stadion. Wie kann das sein? Die Antwort hat wenig mit sportlicher Leistung, aber viel mit uns zu tun.
Die Faszination durch Fußball erschließt sich vielen nicht. Es gibt dort, anders als im Handball oder Basketball, kaum Torerfolge. Das häufigste Ergebnis ist 1:1. In manchen Begegnungen gibt es nicht einmal viele Torszenen. Woher kommt also das Interesse an einem oft so ereignisarmen Spiel? Fußball hat ein Millionenpublikum, weltweit geht es in die Milliarden. Was sind die Gründe dafür? Nehmen wir das Pokalspiel zwischen Werder Bremen und Darmstadt 98, das gerade im Weserstadion stattfand.
Es endete 1:0. Niemand, der dabei war, wird sagen, der Sieger habe großartig gespielt. Der Zweitligist aus Darmstadt stand tief und verteidigte sich zäh. Das entscheidende Tor fiel in der Nachspielzeit, es ergab sich aus der einzigen zwingenden Chance Bremens in der zweiten Hälfte. Die üblichen Gründe dafür, einer Sportart zu folgen – Virtuosität, Eleganz und ausgespielte Kraft –, waren also nicht gegeben. Dennoch tobte das Stadion. Flutlichtspiele haben ihre eigene Temperatur.
Genau das ist Fußball
Die Bremer Ostkurve sang ununterbrochen mehr als neunzig Minuten lang ihre Chöre. Manche Einpeitscher standen dabei mit dem Rücken zum Spielfeld, andere sahen vor lauter Fahnen fast nichts vom Spiel. Jedes Mal, wenn der Ostkurvenchor das Publikum anhielt aufzustehen, standen die Leute auf. Ihre Gesänge waren von ergreifender Einfachheit. In einer der Bremer Hymnen reimt sich „Bremen“ auf „Emblem“ und „Phänomen“, dazwischen ist vom „Meister von der Weser“ die Rede, also von Zeiten, an die sich, obzwar gern, nur die Älteren erinnern.
Doch genau das ist Fußball: eine überempirische, mit Nostalgie und Verklärung getränkte Wahrnehmung dessen, was konzentriert betrachtet werden will, weil man andernfalls ganz leicht etwas verpasst. Da wenig den Ausschlag gibt, entsteht die berechtigte Erwartung, jederzeit könne das Entscheidende geschehen. Begleitet wird sie von der Vermutung, der eigene Enthusiasmus könne es herbeiführen. Das Stadion ist eine Gemeinschaft, auch wenn die Ostkurve mit den Leuten in den VIP-Lounges nicht viel mehr gemein hat als die Anhänglichkeit an den Verein. Doch was heißt schon „nicht viel mehr“, wenn es der vielfach enttäuschte Glaube ist, heute lege Werder endlich seine rätselhafte Heimschwäche ab?
Der Verein wiederum ist ein Name für ganz unterschiedliche Mannschaften. Darmstadts Trainer war einst Bremens Trainer. Die Zuschauer jubeln Spielern zu, die soeben noch in ganz anderen Teams spielten und morgen weiterziehen werden. Dennoch werden sie als Familie behandelt und der Verein als etwas, das ein Wesen hat. Und auf einmal steht man dann neben Hans Schulz, der mit Bremen 1965 deutscher Meister wurde. Wir waren damals noch lange nicht in der Grundschule, aber für einige Sekunden glauben wir tatsächlich, uns daran zu erinnern. In dieser schönen Selbsttäuschung liegt eine Antwort auf die Frage, was am Fußball fasziniert. Das Spiel dauert nicht neunzig Minuten.