Regisseur Halfdan Ullmann Tondel :
„Es ist nun mal, wie es ist: Meine Großeltern sind Legenden“

Von Mariam Schaghaghi
Lesezeit: 7 Min.
Er liebt Chaos, Verrücktheit, Intensität: Regisseur Halfdan Ullmann Tøndel
Lange leugnete der Regisseur Halfdan Ullmann Tøndel seine Lust auf Filme. Kein Wunder, sein Großvater war Ingmar Bergman, seine Großmutter Liv Ullmann. Jetzt könnte sein Debütfilm „Armand“ sogar einen Oscar gewinnen.
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Breite Schultern, hünenhafte Statur, Liv Ullmanns himmelhellblaue Augen. Der Debütant mit dem großen Namen wirkt wie ein Statist aus einem nordischen ­Kinderfilm à la „Michel aus Lönneberga“. Und nicht wie ein Regisseur, dessen Film nun sogar Norwegen im Rennen um den Oscar des besten internationalen Films vertritt. Das Drama „Armand“, das an diesem Donnerstag in den deutschen Kinos startet, steht auf der Shortlist der letzten 15 Filme. Der Nobody mit der legendären Herkunft hat ein atemraubendes Werk über eine Mutter vorgelegt, die wegen ihres Sohnes zu einem Elternabend gebeten wird. Was folgt, ist eine Tour de Force, ein Kammerspiel mit ungesehenen Szenen, ein Sittengemälde, amüsant, absurd und versehen mit kühner Perfidie. „Ar­mand“ ist der ­erste Spielfilm des Vierunddreißigjährigen. Sein originelles Drama um Eltern und Nachwuchs, Gesehenes und nur Vermutetes, Misstrauen, Paranoia und unfreiwilligen Humor wurde prompt nach Cannes eingeladen, in die Sektion „Un Certain Regard“. Und der Doch-noch-Regisseur gewann dort den prestigeträchtigen „Caméra d’Or“-Preis für das beste Debüt. Zur Preisverleihung kam er im Smoking. Doch er schaffte es nicht rechtzeitig, die „Caméra d’Or“ musste auf der Bühne jemand anderes entgegennehmen. Wir trafen ihn nach der Gala.

Herr Ullmann Tøndel, was bedeutet eigentlich Ihr Vorname Halfdan?

Er bedeutet „Halbdäne“. Der Name stammt aus der Zeit der Wikinger. Im Schwedischen, erfuhr ich gerade, bedeutet mein Name „geht so“.

Ihr Film „Armand“ ist weit entfernt von „geht so“, er ist umwerfend. Wie fühlten Sie sich nach der Premiere in Cannes?

Völlig überwältigt. Bei jedem Huster aus dem Publikum dachte ich: „Oh Gott, sie ruinieren den Film!“ Die Vorführung selbst war eine eher qualvolle Zeit. Aber danach war es großartig. Als sei meine Seele erst in Dreck und Schlamm gewälzt worden und danach mit schönen Worten und Applaus gesalbt. Ich fühlte mich total konfus und unfähig, in meiner Gefühlswelt Ordnung zu schaffen.

Nach Cannes eingeladen zu werden, ist die größte Ehre für Cineasten. Dass Sie Ihren Erstling einreichten, grenzte das schon an Irrsinn oder Größenwahn?

Nein, von Anfang an war sehr klar, dass der Ehrgeiz darin besteht, hier zu sein. Ein ganzes Team hat geschuftet, um diesen Film zu realisieren. Jetzt sind wir tatsächlich hier, und es ist phantastisch.

Ihre Hauptdarstellerin Renate Reinsve sagte, Sie hätten jahrelang versucht, sich vom Kino fernzuhalten – wegen Ihrer ­Abstammung. Was ist da dran?

Wenn man in seiner Familie gleich mehrere Menschen vorweisen kann, die die Allgemeinheit als „die Größten der Film­geschichte“ bezeichnet oder auch nur einen davon als „wichtigsten Regisseur in der Geschichte des Kinos“, sagt man sich: „Okay, das hatten wir schon in der Familie – warum sollte ich das auch noch tun?“ Bis ich anfing, mich mehr und mehr mit Regie zu beschäftigen und an der Uni kleine ­Filme zu drehen.

Liv Ullmann war im vergangenen Jahr in Cannes, Ihre Mutter ist eine begnadete Schrift­stellerin. Dachten Sie nie daran, zu spielen oder zu schreiben?

Nein, niemals. Ich schreibe Drehbücher, aber das ist nicht mein liebster Part beim Filmemachen. Sondern am Set zu stehen, das ist es. Wenn ich spielen würde, würde ich sicher zu selbstzentriert, zu selbst­bewusst im wahren Sinne – und zu anstrengend. Aber ich habe vieles ausprobiert, Wirtschaft, Psychologie, um mich vom Kreativen fernzuhalten. Und jetzt bin ich doch da.

Warum? Was haben die Regieversuche ausgelöst?

Ich fühlte mich so lebendig! Fast high. Auf einem Set zu sein und zu sehen, wie eine selbst konstruierte Welt lebendig wird, ist das Größte. Und so kam ich über die vergangenen zehn, 15 Jahre langsam zu dem Schluss, dass ich da wohl hingehöre. Dass das mein Platz ist. Und dann habe ich nicht mehr zurückgeschaut.

Es war belastend, aus dem Schoß einer so illustren Filmfamilie zu stammen. Sprechen Sie heute noch ungern darüber?

Es ist nun mal, wie es ist: Meine Großeltern sind Legenden. Ich hatte eine ganz normale Beziehung zu ihnen. Über sie reden können andere. Ich muss versuchen, mich auf meine Filme zu konzentrieren. Großvater hat, glaube ich, 53 Filme erschaffen. Wenn wir verglichen werden, dann hoffentlich erst am Ende meines ­Lebens, wenn jemand unbedingt scharf darauf ist.

Liegt diese Leidenschaft in Ihrer DNA, und Sie konnten sich nicht entziehen?

Die Fähigkeit zu phantasieren liegt sicher in meiner Familie. Aber Filme zu drehen ist ein komplexer Prozess. Ob das in meiner DNA steckt und ein Teil dessen ist, wer ich bin, das kann ich nicht beurteilen.

Zuerst wagten Sie sich an Kurzfilme, mit „Bird Hearts“ 2015 und „Fanny“ 2018. Wie entstand die Idee zu „Armand“?

Ich hörte mal von einem Freund eine Geschichte: Auf einem Campingtrip haben die beiden anderen Sechsjährigen, mit denen er im Zelt war, wohl etwas getan, was sonst nur Erwachsene tun. Ich habe in Gedanken sofort die Eltern verurteilt. Aber dann merkte ich, wie viel ich phantasierte, ohne überhaupt zu wissen, wer Kind und Eltern sind und was wirklich los war. Ich erfand eine Geschichte, auf der Basis von wenig Information. Das war das Set-up für „Armand“: wie wenig Wissen wir brauchen, um große Geschichten über andere loszutreten.

Wie kamen Sie zu Ihrer Hauptdarstellerin Renate Reinsve, der Seele dieses Films, die seit „Der schlimmste Mensch der Welt“ international Karriere macht?

Sie lebt in Oslo wie ich. Vor über zehn Jahren gab mir jemand den Tipp, dass sie gut sei, und ich mailte sie an, ob sie einen Kurzfilm mit mir drehen möchte. Sie bekomme kein Geld, aber mache wahrscheinlich eine gute Erfahrung. Die zwei Tage Dreh waren phantastisch. Als würden wir alle, die Crew eingeschlossen, uns ein Leben lang kennen. Das war 2016, und damals schworen wir, dass wir zusammen einen Spielfilm drehen. Da sind wir nun!

Sie spricht von Ihnen als einem „Monolith“, einem selbstsicheren Kerl, der weiß, was er tut, was er will, und das auch ausstrahlt. War Ihnen Ihre Veränderung ­bewusst?

Ich habe mich beim Drehen am Set wirklich lebendig gefühlt, ich glaube, das ist es, was sie meint. Ich fühlte mich kraftvoll, mächtig, wusste, was ich leisten kann. Ich finde es bewegend, wie 40 Leute am Set gemeinsam an einem Drehbuch von mir arbeiten und diese Welt zum Leben er­wecken. Ich glaube nicht, dass es gut für einen ist, das zu oft zu tun, weil du dich in gewisser Weise fühlst, als seist du Gott.

Was Sie wohl nicht sein wollen.

Es ist ein Hochgefühl wie bei Extremsportarten, beim Fallschirmspringen ­erlebt man denselben Rausch. Wenn Renate also einen großartigen Take hinlegt, erreichen mich all diese Emotionen. Das ist pure Energie. Und wenn man diese Energie erhält, fühlt man sich stark.

In der stärksten Szene des Films bekommt Reinsve einen schier endlosen Lachanfall. Wie haben Sie Ihre Schauspielerin zu dieser unvergesslichen Leistung bekommen?

Im Drehbuch stand nur: „Sie lacht lange und fängt dann an zu weinen.“ Ich sagte Renate, dass die Szene über fünf Minuten lang dauern könnte. Sie meinte: „Das wird dann wohl die schwierigste Szene werden, die ich je drehe. Ich gebe mein Bestes.“ Wir probten nicht, wir sprachen auch nicht mehr darüber, aber an dem Tag kam sie ans Set, sie lachte, lachte, lachte, lachte, lachte, weinte und weinte. Das meiste in einem Take. Danach war sie so erledigt, dass sie fünf Tage Pause brauchte.

Pushen Sie Ihre Schauspieler nicht zu sehr? Sind Sie extrem, wie Ihr Großvater?

Nun, alle Schauspieler leben noch. Aber es stimmt, jeder bei uns wurde hart gefordert. Wir hatten viel Ehrgeiz, aber kein hohes Budget. Wir hatten nur 22 Drehtage. Das ist nichts.

Kommen Sie mit solch einem Druck klar?

Ich bin verrückt danach. Ich liebe das alles: das Chaos, die Verrücktheit, die Intensität, all das. Ich habe während der gesamten Drehzeit nicht geschlafen. Jeden Morgen hatte ich Nasenbluten. Ich geriet in einen fast manischen Geisteszustand – aber ich liebe es!

Wollen Sie wieder mit Renate Reinsve drehen? Wird sie Ihre Liv Ullmann?

Ich werde sicher wieder mit Renate arbeiten, gerne sogar. Wir funktionieren gut zusammen. Wir inspirieren uns, auch wenn wir uns sehr gepusht haben.

Sie hat Sie auch an Ihre Grenzen ­gebracht?

Ja, sie ist sehr unabhängig, sehr klar in dem, was sie will und mag. Und gleichzeitig klug und intuitiv.

Können Sie gut mit starken Frauen arbeiten? Ihre Großmutter zog Ihre Mutter ­allein auf, ohne Ingmar Bergman.

Ja, ich bin es gewohnt, von starken Frauen umgeben zu sein. Das hat leider zur Folge, dass ich keine starken männlichen Hauptfiguren schreiben kann. Es fühlt sich ­natürlicher an, wenn ich über Frauen schreibe. Ich passe wohl besser zu Frauen.

Einen Kurzfilm haben Sie auch noch gedreht, „Min elskede Løper“ („Mein liebster Läufer“), der auf einer Insel spielt, den man aber nirgendwo zu sehen bekommt. Wissen Sie, warum?

Es ist nur ein filmischer Gruß an meinen Großvater, ein sehr kleiner Film, sieben Minuten, aber sehr schön. Niemand hat ihn je gesehen. Es gibt ihn ausschließlich auf meinem Computer. Es ist ein persönlicher Gruß, ich möchte nicht, dass es mehr ist. Darum zeige ich ihn nicht.

Sie verbrachten mit Ingmar Bergman ­einige Zeit auf Fårö, einer schwedischen Insel, die auch „Bergman’s Island“ genannt wird.

Ja, das Haus dort war ein einfaches Strandhaus, als ich die Sommer auf der Insel verbrachte, bis ich 17 war. Er starb 2007.

Welche Inspiration haben Sie von Ihrem Großvater? Welcher seiner Filme ist Ihr Favorit?

Ich denke: „Fanny und Alexander“.

Wie haben Sie als Kind Zeit mit ihm verbracht, sind Sie ins Kino gegangen?

An seinen Geburtstagen haben wir uns immer Chaplin-Filme angeschaut. „Modern Times“ kenne ich sehr gut!

Welche anderen Filmemacher gehören zu Ihren Vorbildern?

Ich habe einen eklektischen Geschmack: Ich bin stark von Thomas Vinterberg beeinflusst, ich mag seine emotionale Erdung. Ich liebe Luis Buñuel, denn er versteht es, Satiren auf sehr ernste Art zu präsentieren. Und Andrea Arnold, in ihren Filmen steckt viel Mut und Herz. Mein Kurzfilm „Fanny“ war von ihrem „American Honey“ inspiriert.

Haben amerikanische Agenturen Sie schon entdeckt?

Es trudeln gerade Mails ein. Alle sehr nett und höflich. Aber ich werde mir Zeit lassen, nichts überstürzen. Ich bin beeindruckt, weil die Leute die Muskeln spielen lassen. Aber ich brauche nicht um jeden Preis einen Agenten oder andere Deals. Das muss schon passen.

Wie hat Ihnen Cannes gefallen?

Es war überwältigend hier, sehr verrückt. Und etwas absurd. Was für ein Zirkus! Es hat zwei Tage gedauert, bis ich mal einen Film anschauen konnte. Geht es nicht auch um die Filme? Jetzt lebe ich noch in dieser Phantasiewelt, übermorgen geht es zurück nach Oslo zu meinem dreijährigen Sohn, zurück ins wirkliche Leben. Das ist gut so.

Wie war die Reaktion Ihrer Familie, als Sie, der Sie immer sagten: „Das tue ich mir nicht an“, dann mit solch einem Werk ­daherkamen?

Meine Eltern besuchten die Premiere in Cannes, was ich schön fand. Es war das erste Mal, dass sie diesen Film sahen. Dass sie überhaupt irgendetwas von mir sahen. Sie waren sehr stolz, so wie alle Eltern es wären. Es hat sie nie gekümmert, ob ich nun Filmemacher werde oder etwas anderes. Sie haben mich nie in irgendeine Richtung gedrängt.

Sie wurden zu nichts gedrängt, Sie sträubten sich sogar. Und plötzlich kommen Sie nicht nur dennoch mit einem Film daher, sondern auch mit einem von immenser ­Intensität und Qualität.

Ich bin froh, dass Sie das sagen. Denn wenn ich schon einen Film mache, bei meiner Herkunft, musste ich einen Film machen, der vor allem mir selbst entspricht. Da muss so viel Mut aus meinem Inneren kommen und so viel meiner Seele drinliegen wie nur irgend möglich. Denn ich will nicht verglichen werden. Besser wäre es, wenn die Leute dann sagten: „Okay, der macht zumindest sein eigenes Ding.“

Können Sie es fassen, dass Sie die „Caméra d’Or“ gewonnen haben?

Ja. Nein. Ich war vor fünf Stunden noch in Oslo und spielte mit meinem Sohn. Bei so vielen intensiven Gefühlen muss ich aufpassen, dass ich nicht zu sehr ausflippe. Im Taxi nach Cannes rief ich Renate Reinsve an, um ihr die Nachricht zu überbringen. Sie weinte, weil sie so glücklich war. In dem Moment kamen mir auch die Tränen, weil ich so überwältigt war.

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