Kolumne „Geschmackssache“ : Ein Freigeist für die Freie und Hansestadt
Hanseatischer kann Hamburg gar nicht mehr werden, jedenfalls nicht für einen Bewohner süddeutscher Berglandschaften. Wir sitzen ganz oben im Feinschmeckerrestaurant des Luxushotels The Fontenay, das einem berühmten Hamburger Großunternehmer und bekennenden Lokalpatrioten gehört, blicken über die chrysanthemen-weißen Tudor-Villen im Pfeffersackparadeviertel Rotherbaum und sehen lauter sehr blonde Menschen zu sehr vornehmen Hockeyclubs radeln. Am Horizont sticht der schlanke Turm des Hamburger Michel in den Himmel, unter uns glitzert die Außenalster im schönsten Ultramarinblau, und dort drüben an der Binnenalster winkt Udo Lindenberg aus seiner Suite im Hotel Atlantic zu uns herüber. Das Ambiente mit seinen dezenten Weiß- und Grautönen ist hanseatisch kühl, das Publikum so international wie die Freie und Hansestadt Hamburg – und wir ahnen noch nicht, dass das Maß an Hanseaterei damit auch schon bis zum Dessert aus Hamburger Roter Grütze ausgeschöpft ist.
Kein Kind von aromatischer Traurigkeit
Der Chefkoch des Restaurants „Lakeside“ kommt aus Oberbayern, die Chef-Sommelière aus Unterfranken und der kulinarische Lokalpatriotismus denkbar kurz. „Als ich angefangen habe, dachte ich, ich würde jeden Morgen zum Fischmarkt gehen und nichts anderes als Fisch kochen“, sagt Julian Stowasser, der dann aber schnell feststellen musste, dass es in seinen früheren Wirkungsstätten Frankfurt und München wegen des Flughafens hier und der hohen Dichte an Gourmetlokalen dort viel besseren Fisch gibt. Statt Fischkoppspeisen serviert er uns deswegen eine Weltküche ganz ohne geografische oder dogmatische Fesseln. Sie beginnt mit einer Treppe aus drei Porzellanzylindern unterschiedlicher Höhe, die den Aufstieg ins „Lakeside“ symbolisieren und mit drei ebenso kunstfertigen wie kraftstrotzenden Miniaturen bestückt sind. Und schon nach dem Tomaten-Drop mit Burrata, der Pilzcreme mit Kartoffelchip und dem Baiser mit Minze, Aal und Erbse wissen wir, dass dieser Chef bestimmt kein Kind von aromatischer Traurigkeit und hanseatischer Zurückhaltung ist.
Selbst in den Momenten des größten Minimalismus haut Julian Stowasser munter auf die Aromenpauke. Seinen Kaisergranat zum Beispiel legt er nur in Salzlake ein, krönt mit ihm einen Katafalk aus Schmand-Creme, Kaffirlimetten-Vinaigrette, Sellerie-Gurken-Salat, Reis-Crunch und der honigsüßen, spanischen Melonensorte Piel de Sapo und richtet damit ein Aromen-Tohuwabohu an, bei dem die einzelnen Ingredienzien eher einen Waffenstillstand als tiefe Freundschaft schließen. Das hingegen gelingt den Früchten des Meeres mühelos – Bouchot- und Herzmuscheln, Sepia und Carabinero –, die sich auch noch mit Fenchel, Granny Smith und einem Curry-Schaum ins beste Benehmen setzen. Und als schöne Spielerei gibt es dazu eine trügerische Bouchot-Muschel, deren Schale aus Esspapier geformt ist und deren Inneres aus einem Muscheltatar mit Zitronen-Aioli besteht. Eine genauso gelungene Geschmacksverwirrung beschert uns der arrosierte Zander mit Bohnen-Cassoulet, bei dem scharf angebratene Kokosspäne die Speckaromen und Tamarinden die Birnen ersetzen – und schon ist ein klassisches Aromenbild kunstvoll variiert.
Aromen-Blasmusik in der Hansestadt
Diese stilistische Vielfalt spiegelt getreu Julian Stowassers Lebensweg wider. Zum Kochen kam er eher durch Zufall, und da halbe Sachen nicht seine sind, gab er sich, sobald der Entschluss für den Kochberuf gefasst war, niemals mit weniger als dem Besten zufrieden. Der wunderbare Münchner Zwei-Sterne-Chef Diethard Urbansky wurde zu seinem ersten, prägenden Lehrmeister, dem die Crème de la crème nachfolgen sollte: Heinz Reitbauer, Claus-Peter Lumpp, Sven Elverfeld, schließlich Jan Hartwig, dessen Souschef er vier Jahre lang war und mit dem er drei Sterne erkochte. Mit Anfang dreißig trat er seine erste Küchenchefstelle im „Weinsinn“ in Frankfurt an, bekam sofort selbst einen Stern und folgte 2020 dem Ruf nach Hamburg, um auch dort schnell Meriten zu sammeln: 2021 holte er für das „Lakeside“ den ersten Stern, zwei Jahre später den zweiten – und ans Aufhören denkt der Oberbayer keinesfalls, der sich nicht nur wegen seiner beiden kleinen hanseatischen Söhne inzwischen mindestens als Viertel-Hamburger fühlt.
In seiner Küche hält es Julian Stowasser allerdings eher mit Aromen-Blasmusik: je schwung- und kraftvoller, umso besser, und sei es unter Verzicht auf leise Zwischentöne. Seine lackierte Wachtelbrust schickt er mit Minzspinat und Auberginen, Ras el-Hanout und Rosinenschaum auf eine Reise in den exotischsten Orient, hüllt sie zudem noch in eine Hühner-Farce und nappiert sie mit einer Beurre Blanc, wodurch ein turbulenter, den Geschmackssinn auf eine harte Orientierungsprobe stellender Aromen-Basar entsteht. Dann geht es mit dem Limousin-Lamm in Siebenmeilenstiefeln weiter zum Mittelmeer, und auch hier gibt es keine halben Sachen, sondern das ganze Füllhorn: das sizilianische Schmorgemüse Caponata und die elegante Artischockensorte Poverade, Zitronen von der Amalfi-Küste und eine herrlich würzige Lammkruste aus Bohnenkraut und Petersilie – zusammengefügt zu einem vollkommen überzeugenden Teller, der das ganze Potential Julian Stowassers offenbart.
Er sei froh, dass er seinen endgültigen Stil noch gar nicht gefunden habe, sondern sich ständig weiterentwickeln könne, sagt der Chef, der inzwischen Ende dreißig und noch immer ein junger Wilder am Herd ist, ein Impulsiv-Koch par excellence. Deswegen betrachtet er seine Küche als Laboratorium, in dem seine Ideen erst in der Zwiesprache und Manöverkritik mit dem Souschef, der Sommelière und dem Restaurantleiter ihre Vollendung finden. Bei den Desserts gelingt das mustergültig: beim aufgeschlagenen, mit Sanddorn und Aprikose verfeinerten Comté von Maître Antony, luftig wie eine Cumulus-Wolke; und bei der Hamburger Roten Grütze aus Waldbeeren mit Rosenwasser, Vanille-Pannacotta, Crème de Cassis und Atsina-Kresse, angerichtet wie das Taiji des Yin und Yang, das daoistische Symbol der Harmonie aller Gegensätze. Im „Lakeside“ könnte es eines Tages zum Wappen werden.