Australian-Open-Finale :
Zverev ist der Beste der Nichtsieger

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„Ich bin nicht gut genug“: Alexander Zverev ist zerknirscht bei der Siegerehrung für Jannik Sinner.
Alexander Zverev bringt eigentlich alles mit, um sich zum Grand-Slam-Turniersieger zu küren. Doch mit dem verlorenen Endspiel gegen Jannik Sinner bleibt er auch in Australien vor allem eines.
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Es gibt Listen, auf denen niemand gerne seinen Namen sehen will. Dabei geht es um so etwas wie die zehn dümmsten Anmachsprüche, die fünf peinlichsten Promis aus dem Dschungelcamp oder die blödesten Versuche, ein Auto einzuparken. Auch für den Sport kursieren solche abartigen Top-of-the-Flops-Listen im Netz oder unter der Hand. Zu den beliebtesten gehört im Tennis die Aufzählung „der besten Spieler, die niemals ein Grand-Slam-Turnier gewonnen haben“.

Darin stand sehr lange Zeit Guillermo Coria ganz oben; jener Argentinier, der in den Nullerjahren nicht nur auf Sand zu den herausragenden Herren gehörte, im French-Open-Endspiel 2004 gegen Gaston Gaudio jedoch zweimal zum Titelgewinn aufschlug und zwei Matchbälle vergab.

In den vergangenen fünf Jahren übernahm in vielen Nichtsieger-Listen ein anderer Ausnahmekönner die unrühmliche Spitzenposition: Der hochtalentierte und körperlich topfitte Alexander Zverev, der es bei den vier bedeutendsten Turnieren zwar regelmäßig in die letzten Runden schafft, aber am Ende bestenfalls den Trostpreis überreicht bekommt – wie am Sonntag nach dem Endspiel der Australian Open.

Zverev: „Das beschissenste Gefühl“

Nachdem er das Melbourner Finale gegen den Weltranglistenersten Jannik Sinner 3:6, 6:7 (4:7), 3:6 verloren hatte, zog Zverev schon zum dritten Mal nicht mit einem verschnörkelten Siegerpokal, sondern mit einem schlichten Silberta­blett von dannen. „Ein Grand-Slam-Finale zu verlieren ist das beschissenste Gefühl, das es auf der Welt gibt“, sagte der 27 Jahre alte Deutsche später.

Zuvor bei der Siegerehrung hatte er sich zutiefst zerknirscht an seinen Trainer-Vater Alexander Senior, Manager-Bruder Mischa und den Rest seines Teams gewandt und gesagt: „Ich bin nicht gut genug.“ Wie die meisten Zuschauer in der Arena und darüber hinaus hatte auch Sinner Mitgefühl mit dem Kollegen von der traurigen Gestalt und versuchte ihn aufzubauen: „Jeder weiß, wie stark du bist. Du wirst sehr, sehr bald einen solchen Pokal gewinnen.“

Die netten Worte des besten Spielers der vergangenen 15 Monate konnten nichts daran ändern, dass Zverevs Beiname nach der 36. Teilnahme bei einem Grand-Slam-Turnier weitere Konturen annahm: Alexander, der große Unvollendete.

Wie Zverev, so absolvierte auch Sinner sein drittes Grand-Slam-Endspiel. Und wie der Deutsche, so steht auch die Finalquote des Südtirolers bei hundert Prozent – allerdings unter umgekehrten Vorzeichen. Zverev hat nun alle drei Endspiele verloren, zuvor 2020 in New York gegen den Österreicher Dominic Thiem und 2024 in Paris gegen den Spanier Carlos Alcaraz. Sinner dagegen gewann nach den Triumphen des vergangenen Jahres bei den Australian Open und den US Open auch sein drittes Endspiel. „Er befindet sich gerade in einem anderen Universum als jeder andere“, sagte Zverev über die Hartplatzerfolge des Italieners.

Die Liste derer, die zeit ihrer Karriere ohne Grand-Slam-Titel geblieben sind, ist halbwegs schmeichelhaft. Wird den aufgeführten Spielern, zu denen auch der früher stets hoch gehandelte Tommy Haas gehört, doch grundsätzlich eine sportliche Extraklasse attestiert. Aber was nützt’s, wenn in den entscheidenden Partien die Nerven versagen (Zverev in New York), die Kräfte schwinden (Zverev in Paris) oder der Gegner großartig aufspielt (Sinner in Melbourne).

Anders als die meisten, die ihren Platz auf der Nichtsieger-Liste sicher haben, ist Zverev weiter in seinen besten Tennisjahren und kann seinen Namen noch tilgen. Vier lange Monate wird es dauern, bis der gebürtige Hamburger seine nächste Chance in Roland Garros bekommt. Es gibt nicht wenige, die ihm auf den Sandplätzen von Paris noch größere Titelchancen zutrauen als auf den anderen beiden Belägen Hardcourt und Rasen. Auch wenn die Konkurrenz aus Sinner, Alcaraz und einer Unmenge talentierter Nachrücker künftig eher größer und stärker wird.

Bis zum traurigen Schlusssonntag betonte Zverev, dass ihm der Sinn nur nach dem Höchsten stehe: Er jage den Grand-Slam-Titel, wiederholte der Deutsche, der 2014 die Juniorenkonkurrenz der Australian Open gewann. „Am Ende des Tages möchte ich so ein Ding gewinnen.“

Olympiasieg 2021 in Tokio, zweimaliger Gewinner der ATP Finals, 23 Titel auf der ATP-Tour, alles schön und gut. Aber um einen herausragenden Platz in der Tennisgeschichte einzunehmen, braucht es einen Erfolg bei den vier wichtigsten Turnieren oder die Spitzenposition in der Weltrangliste. Von beidem träumt Zverev von klein auf – und weiterhin vergeblich. Zverev bleibt erst einmal Weltranglistenzweiter und Deutschland ohne Grand-Slam-Turniersieger, seit Boris Becker 1996 die Australian Open gewann.

Zverevs Ansprüche konnte selbst eine Bizepsverletzung, die er sich beim Vorbereitungsturnier United Cup zugezogen hatte, nicht schmälern. Was zur raschen Genesung des Muskels erleichternd hinzukam, war ein gewisses Losglück. Zverev bekam es erst spät in der zweiten Turnierwoche mit größeren Kalibern der Herrenkonkurrenz zu tun. Bis dahin siegte er reihenweise glatt und wie selbstverständlich und konnte anders als früher Kraft fürs Endspiel sparen. Umso mehr, weil Novak Djokovic im Halbfinale nach 81 Minuten aufgeben musste. Die gesparte Energie konnte er letztlich nicht gewinnbringend einsetzen.

Als es gegen Sinner darauf ankam, sah sich Zverev gleich im ersten Satz bei eigenem Aufschlag reihenweise Breakbällen ausgesetzt. Fünfmal konnte er den Nachteil wettmachen, indem er stark servierte. Doch beim sechsten Breakball offenbarte sich das Thema dieses Tennistages: In den Ballwechseln kam Sinners Höchstgeschwindigkeitstennis zum Tragen.

Der Deutsche ließ sich allzu oft hinter die Grundlinie zurückdrängen, zudem geriet seine Vorhand bei all ihrem gestiegenen Tempo gelegentlich wacklig. Und legte Zverev schlagartig zu, gerieten Sinners Antworten oft sensationell schnell und solide. Mit einem Vorhandwinner sicherte sich der Italiener das Break zum 5:3 und kurz danach den ersten Satz.

Danach lieferte Zverev dem Italiener eine Weile ein Duell auf Augenhöhe. Wurde dem Hamburger von Großkopferten wie Roger Federer früher oft vorgeworfen, in entscheidenden Situationen zu zurückhaltend zu spielen, so nahm er diesmal allen Mut zusammen. Dass der zweite Satz – und damit das weitere Match – gegen ihn lief, lag weniger an fehlender Aggressivität als an einem Netzroller des Südtirolers im Tiebreak: Der Ball plumpste unerreichbar auf Zverevs Seite zum 4:5 und ließ den ausgeglichenen Satz zu Sinners Gunsten kippen.

Nachdem Zverev im dritten Durchgang wieder einmal eine Vorhand ins Aus geschlagen und damit sein Service zum 2:4 abgegeben hatte, war der Rest für Sinner Formsache. Er brachte nicht nur die Kunststücke fertig, Zverev in dem 2:42 Stunden langen Match keinen einzigen Breakball zu gewähren und zum zweiten Mal nacheinander die Australian Open zu gewinnen. Der Dreiundzwanzigjährige gewann das Turnier auch nach einem Kaltstart ins Tennisjahr.

Anders als die meisten Konkurrenten war er direkt aus dem Wintertraining und ohne Vorbereitungsturnier nach Melbourne gekommen, weil er die vergangene Saison bis zum Davis-Cup-Triumph Italiens Ende November ausgekostet hatte. Nun ist es an Alexander Zverev, in Ruhe auf die nächste Chance zu lauern – und sie endlich zu nutzen. „Jetzt wird mein Fokus auf Roland Garros liegen“, lautete sein Schlusswort zum Melbourner Sonntag.

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