Faktor Fans beim Biathlon : Wenn Anfeuerung als Lärm empfunden wird
Zumindest die Fans waren in Bestform. Beim Schunkeln („Von vorne nach hinten, von links nach rechts“) und beim Singen („Oooh, ich bin schon wieder im Pistenfieber“) zeigten sie sich gewohnt textsicher. Am Birxsteig, dem gefürchteten und steilsten Anstieg der Langlaufstrecke in der Oberhofer Biathlon-Arena, drängten sie sich wie jedes Jahr an der Bande, drehten die Ratschen, schwenkten die Fahnen und trieben die vorbeieilenden Athleten mit Gebrüll bergauf. Allein der Faktor Birxsteig half den deutschen Skijägern zwar für einen kurzen Moment, die Schmerzen in Beinen und Lunge zu vergessen. Aufs Podium konnten aber auch die Fans sie nicht hieven.
Bis zur Single-Mixed-Staffel am Sonntagmittag stand kein einziger Podestplatz der Biathletinnen und Biathleten des Deutschen Skiverbandes (DSV) in den Ergebnislisten. Und das bei ihrem Heim-Weltcup im Thüringer Wald. 20.500 Fans waren am Samstag ins Stadion gekommen. Ihnen wurde blau, weiß und rot vor Augen. Bei den Siegerehrungen wehten vornehmlich die Flaggen Norwegens und Frankreichs im böigen Wind.
In dem kleinen, so traditionsreichen Weltcuport am Rennsteig haben die deutschen Biathleten schon viele große Momente erlebt. 2017 zum Beispiel, als Simon Schempp und Erik Lesser den Franzosen Martin Fourcade im Massenstart niederrangen. Bei der Weltmeisterschaft 2023, als Denise Herrmann-Wick die Goldmedaille im Sprint gewann.
Oder erst im vergangenen Jahr, da triumphierte Benedikt Doll vor drei Norwegern in dieser Disziplin. Alles anders in diesem Winter. Die Vorfreude der Athleten war wie immer groß. Doch zu sehr haderten die Erfahrenen in den Einzelrennen mit dem Wetter – zuerst zu nass, dann zu windig –, und zu nervös waren diejenigen, die zum ersten Mal vor dieser Kulisse laufen und schießen mussten.
Der Faktor Fans erwies sich als Fluch und Segen. Selina Grotian zum Beispiel, 20 Jahre jung, erreichte auf Platz fünf im Verfolgungsrennen und Platz drei in der Staffel mit Justus Strelow noch die besten deutschen Ergebnisse. Die Kulisse überwältigte sie: „Es macht unfassbar viel Spaß, hier zu laufen. Brutal, wie laut es am Birxsteig ist.“
Ihre männlichen Teamkollegen hingegen haderten mit der Lautstärke. Danilo Riethmüller griff auf Ohrstöpsel zurück. Johannes Kühn, für den das Wochenende nach Platz 29 im Sprint und 33 in der Verfolgung schon vor den Staffeln am Sonntag beendet war, ärgerte sich im Fernsehinterview über die lärmenden Anhänger am Schießstand, die jeden Treffer mit „Heeey“ und jeden Fehler mit „Oooh“ kommentierten.
„So toll die Fans auch sind“, sagte Kühn, „irgendeiner hat es nicht verstanden, dass, wenn man nicht schießt, man auch nichts sagt. Einer hat immer dazwischengerufen.“ Zwar gestand er ein, dass er sich davon hätte frei machen müssen, „das sollte man nicht hören, das hätte ich besser machen können“. Aber er empfahl Nachhilfe: „Man sollte denen vielleicht mal erklären, wie es funktioniert.“ Rumms.
Die Notwendigkeit, am Schießstand nachsitzen zu müssen, sieht im deutschen Team aber keiner. Das hätte nicht zuletzt der Weltcup in Frankreich vor Weihnachten gezeigt, bei dem sie die beste Trefferquote unter allen Teams gehabt hätten, sagte Bundestrainer Uroš Velepec. Obwohl die Projektile in Oberhof nun wieder reihenweise ihre Ziele verfehlten, ist sich der Slowene sicher: „Sie haben nicht vergessen, wie man schießt. Das ist nichts, was wir nicht können, aber wir müssen es zeigen, wenn es darauf ankommt.“
In Wind und Lärm hätten sie den Fokus verloren. Bei manchen kam auch noch die „Nähmaschine“ dazu, wenn die Beine ob der Belastung an den Anstiegen im entscheidenden Moment am Schießstand zu zittern beginnen, wo sich doch als einziges Körperteil der Finger am Abzug bewegen sollte. Erst am Sonntag in den Staffeln fanden die Deutschen zu alter Treffsicherheit zurück.
„Ich bin richtig am Boden“
Die Ursache dafür, dass die Teildisziplin mit dem Kleinkaliber nach den guten Ergebnissen vor dem Jahreswechsel nun wieder Probleme bereitete, verortet DSV-Sportdirektor Felix Bitterling „zwischen den Ohren“. „Das ist ein Thema, das uns ein bisschen verfolgt“, sagte er nach den Einzelrennen über die mentale Schwäche an der Waffe. „Auch wenn es anspruchsvoll am Schießstand war, der Wind heftig reingekommen ist, müssen wir in der Lage sein, bessere Ergebnisse abzuliefern.“
Wie erdrückend die eigenen Erwartungen und die von außen sein können, ließ Philipp Horn anklingen. Der Dreißigjährige ist in Oberhof zu Hause, hat sein Abitur am örtlichen Sportgymnasium gemacht, trainiert dort am Bundesstützpunkt – und wollte es deshalb besonders gut machen. Seine Wochenendbilanz: Platz 44 im Sprint und 45 in der Verfolgung.
„Ich bin richtig am Boden“, gestand er, „momentan habe ich keine Erklärung dafür. Die letzten Tage im Training habe ich gut geschossen, mich gut gefühlt. Aber im Rennen hat es einfach nicht geflutscht.“ Unglaublich bitter sei das vor den eigenen Fans: „Ich sehe hier nur bekannte Gesichter, die tolle Stimmung, meine Familie auf der Tribüne. Ich würde mich gerne mit ihnen freuen und feiern.“
Der Druck, der Lärm, der Wind – bis zur WM im Februar bleibt nicht viel Zeit, sich mit diesen Faktoren zu arrangieren. Die Wettkampfsituation mit den geräuschvollen Fans im Hintergrund lässt sich im Training schlecht simulieren. Den Glauben an sich und die eigenen Fähigkeiten wollen sich die deutschen Biathleten über die verbleibenden Wettkämpfe zurückholen. Zwei Weltcupwochenenden stehen bis zum WM-Start in der Schweiz noch an, schon am Mittwoch geht es in Ruhpolding weiter. Auch dort werden Tausende jeden Schuss kommentieren. Sie sitzen sogar noch näher dran am Geschehen.