Selfie-Verbot in Cannes : Toter Teppich

„Keine grotesken Fotos“, forderte Cannes’ Festivalleiter Thierry Fremaux vor der Eröffnung. Doch das Selfie-Verbot macht die großen Auftritte nur noch halb so spannend.
Auf dem Schild vor dem Festivalpalast steht es eindeutig: „Keine Selfies oder andere Fotos auf dem Roten Teppich, vielen Dank!“
Wer in diesem Jahr ein Ticket zu einer Filmpremiere in Cannes bekommt, erhält auch mit der Karte den Hinweis, dass Fotos auf dem Weg in den Palast doch bitte tunlichst zu vermeiden sind. „Wer sich nicht daran hält, dem wird der Einlass zur Vorführung verweigert“, heißt es drohend auf Hinweiskärtchen, die man mit den Premierentickets erhält. Der Festivalleiter Thierry Fremaux hatte am Dienstag vor der Eröffnung noch einmal in mehreren Interviews seine Idee vom Roten Teppich propagiert: Zurück zu altem Glamour wolle er, ohne diese „grotesken Fotos“.
Wie aber sieht so ein roter Teppich dann aus? Für den Glamour braucht es ja nicht nur das Team des Eröffnungsfilms, in diesem Fall Penelope Cruz und Javier Bardem, die für die Premiere ihres Films „Everybody Knows“ angereist waren – und die auf einem roten Teppich in puncto Stil nicht viel verkehrt machen.
Es braucht neben den Stars aber eben auch noch ein paar Sternchen, die als Paradiesvögel die Fotografen und Klatschkolumnisten zum Staunen bringen. Die findet man heute eher unter den Models und Influencern – und die wiederum brauchen Fotos wie die Luft zum Atmen.
Wenn Thierry Fremaux also vom alten Glamour schwärmt, dann schließt der 57 Jahre alte Franzose hier eine ganze Generation einfach aus – die große Marken der Mode- und Schmuckindustrie rund um den roten Teppich längst für sich entdeckt haben.
Entsprechend ist der rote Teppich nun eine fast schon traurige Groteske. Zum donnernden Euro-Dance laufen die Stars und Sternchen etwas steif auf die lange, steile Treppe zu, die sie auf dem Weg in den Festivalpalast erklimmen müssen. Wer sein Smartphone auch nur für einen Tweet in der Hand hält, wird von der Security ermahnt, es doch bitte verschwinden zu lassen. Versucht ein Schauspieler naiv, doch den Arm für einen Schnappschuss zu heben, rennen Sicherheitsleute so schnell auf ihn zu, dass man Angst hat, sie würden den Selfie-Aspiranten einfach in Rugby-Manier vom Teppich tackeln.
Im vergangenen Jahr hatte Will Smith hier noch das Tanzbein geschwungen und Grimassen für Fotos mit den Fans gezogen. Am Dienstagabend erinnert der Einlass eher an den Gang zu einer Schulpflichtveranstaltung, in der man für jeden Anflug von Individualität und jede Abweichung vom Protokoll hart bestraft wird.
Das Bild vom alten Glamour in Cannes beschwört eben nicht nur den Stil vergangener Jahrzehnte, sondern auch einen Sitten- und Verhaltenskodex, der in seiner Rückwärtsgewandtheit mehr ans Ancien Régime als an den Glanz der Gründungsjahre des Festivals erinnert.