Frankfurter Anthologie :
Friederike Mayröcker: „1 Gedicht das ist so 1 Atemzug“

Von
Frieder von Ammon
Lesezeit:
Barbara Klemm

Aus dem Werk einer Jahrhundertdichterin: Verse über das Wesen des Gedichts, die zugleich ihren verstorbenen Hand- und Herzgefährten vergegenwärtigen.

Friederike Mayröcker ist eine der bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikerinnen des 20. und frühen 21. Jahrhunderts, für manche ist sie sogar die bedeutendste. Zu Recht wurde sie als „Jahrhundertdichterin“ bezeichnet. Sie war das auf eine mindestens zweifache Weise: zum einen als Dichterin, die zur Zeugin fast eines ganzen Jahrhunderts wurde, das sie mit niemals nachlassender Neugierde und Offenheit wahrnahm und dem sie auf unnachahmliche Weise in ihren Gedichten Ausdruck verlieh. Zum anderen war sie das als eine Dichterin, deren – im Lauf von rund acht Jahrzehnten entstandenes – poetisches Werk einzigartig ist in der Literaturgeschichte ihres Jahrhunderts. Kein anderes ist mit ihm zu vergleichen.

Das hängt auch mit Friederike Mayröckers Verständnis von Lyrik zusammen, das sich zwar mit den Jahren änderte, immer aber völlig eigen blieb. Wie sie die Gattung im hohen Alter sah, kann man dem vorliegenden Gedicht aus dem Jahr 2009 entnehmen. Als sie es schrieb, war sie 85 Jahre alt. Bisher war es kaum bekannt, inzwischen kann man es jedoch in der von Marcel Beyer herausgegebenen Ausgabe von Mayröckers Gedichten aus den letzten zwanzig Jahren nachlesen – und von hier aus wird es seinen Weg in Anthologien und Auswahlbände finden, daran besteht kein Zweifel.

Denn dieses Gedicht ist etwas ganz Besonderes: Es bringt das Kunststück fertig, in wenigen Worten zu sagen, was ein Gedicht sei, und das Gesagte zugleich poetisch umzusetzen – eine Definition des Gedichts in Gedichtform, wie man zuerst denken könnte. „Definition“ aber trifft es nicht, „Veranschaulichung“ oder „Verbildlichung“ wäre genauer, weil das Wesen des Gedichts nicht abstrakt bestimmt, sondern in einer Folge eindrücklicher Bilder überaus konkret vor Augen geführt wird. Diese Bilder stammen aus unterschiedlichen Bereichen und werden nicht hierarchisch geordnet, sondern additiv gereiht, wobei auf zwei positive Bestimmungen immer eine negative folgt. Nur das Ende bleibt offen.

Atmen, weinen, dichten

Von zentraler Bedeutung – das macht bereits der doppelte Binnenreim in dem ansonsten reimlosen Text deutlich – ist der Gedanke, dass ein „Gedicht“ „kein Gewicht“ ist „auf der Brust des Dichters“. Demnach ist es so schwerelos, dass das Atmen, das zugleich das Dichten ist, dadurch nicht erschwert, sondern erleichtert wird. Und das Dichten, das zugleich das Atmen ist, bringt daraufhin pflanzliches Wachstum hervor, das schließlich zu einem ganzen Wald führt. Ermöglicht wird dies durch die „Abschiedstränen“ der Dichterin, die das Sprießen in Gang setzen. Atmen und Weinen sind also die Grundlagen einer Poesie, wie Friederike Mayröcker sie sich vorgestellt hat: Sie bedingen das Wachstum und den freien, hohen Flug, wie er im Bild vom „Vögelchen auf der / Spitze des Baumes“ evoziert wird.

Aber das war noch nicht alles: Ein Gedicht kommt nicht triumphal daher, mit allem Glanz und Gloria einer festlichen Kirchenmusik, an die man bei „Trompeten Posaunen“ denken mag. Stattdessen zelebriert es mit einem stillen, intimen Ton eine individuelle, private Messe. Es ist eine Trauermesse, denn der „Freund“, um den es geht, ist offenbar nicht mehr gegenwärtig.

Hinter dieser Figur kann man den neun Jahre vor der Entstehung des Gedichts gestorbenen Lyriker Ernst Jandl vermuten, der ein halbes Jahrhundert lang „Hand- und Herzgefährte“ Friederike Mayröckers war, wie sie es formuliert hat. „An seiner Seite hätte ich sogar die Hölle ertragen“, heißt es einmal bei ihr. Seit seinem Tod hat sie in ihren Gedichten auf ergreifende Weise um ihn geklagt und damit die Erinnerung an ihn wachgehalten. In diesem Gedicht ist Jandl zwar nicht namentlich, aber auf andere Weise präsent: In seinen Frankfurter Poetikvorlesungen mit dem Titel „Das Öffnen und Schließen des Mundes“ von 1984/85 hatte auch er das Atmen zur Grundbedingung des Dichtens erklärt. Friederike Mayröcker nimmt das nun auf. In den Atemzügen, die ihre Gedichte sind, ist also auch Jandl enthalten. In ihnen atmen die beiden in gewisser Weise miteinander. Insofern erscheint es auch naheliegend, dass die „Umarmung des /Freundes in 1 Oktobernacht“, von der im Gedicht die Rede und die das Gedicht selbst ist, ihm gilt.

In diesem Jahr wäre Friederike Mayröcker, die Jahrhundertdichterin, hundert Jahre alt geworden. Der Wald, der aus ihren zu Versen gewordenen Abschiedstränen sprießt, hat, so scheint es, gerade erst zu wachsen begonnen.

Friederike Mayröcker: „1 Gedicht das ist so 1 Atemzug“

1 Gedicht das ist so 1 Atemzug : 1 Vögelchen auf der
Spitze des Baumes : kein Gewicht auf der Brust des
Dichters : 1 Gedicht das ist der Tann der mir wächst aus den
LUNGEN FLÜGELN : der mir sprieszt aus den  Abschiedstränen : 1
Gedicht das sind nicht Trompeten Posaunen : 1 Gedicht das  ist
1 Schluchzen und Küssen : 1 Gedicht das ist die Umarmung des
Freundes in 1 Oktobernacht

1.10.09

Friederike Mayröcker: „Gesammelte Gedichte 2004 bis 2021“. Hrsg. und mit einem Nachwort von Marcel Beyer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2024. 560 S., geb., 38,– €.

Von Frieder von Ammon ist zuletzt erschienen: „Zwischen Abstinenz und Aneignung. Systematische und historische Perspektiven auf die musikalische Rezeption von Goethes West-östlichem Divan“. Hrsg. von Frieder von Ammon und Hans-Joachim Hinrichsen. Rombach Wissenschaft, Baden-Baden 2024. 344 S., br., 84,– €.

Redaktion Hubert Spiegel

Gedichtlesung Thomas Huber

Quelle: F.A.Z.Artikelrechte erwerben

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