Jeder kann ein Tell sein : Lernt dieses Volk der Hirten kennen!
Die Schweiz ist keine Seefahrernation. Sie hat keine Kriegsmarine, aber eine Motorbootkompanie. Ihre Milliardäre sind keine Reeder, sondern gehen anderen Geschäften nach. Und doch spielt im „Wilhelm Tell“, dem schweizerischen Nationaldrama schlechthin, das unglücklicher-, aber auch bezeichnenderweise von einem landesfremden, also im Grunde am Rand der Illegalität operierenden Dichter verfasst wurde, ein Boot eine nicht geringe Rolle. Zwei Mal, im ersten und im vierten Akt, rettet eine dramatische Bootsfahrt einen braven Mann, der aus reiner Rechtschaffenheit einen Mord begeht, vor seinen Verfolgern – eine Art Fluchthelfervehikel also. Dieses Boot ist unsinkbar – wie alles andere in Schillers Drama auch. Es trotzt allen Stürmen, tanzt auf jeder Welle, ist bis in die letzte Ritze gestopft mit dem Werg des Mythos und dem Teer der Rezeption. Aber so gründlich abgedichtet und kalfatert wie an diesem Züricher Abend von Milo Rau ist Tells Nachen wohl noch nie über eine Bühne gerudert worden. Postdramatisches Theater, rundum imprägniert.