Weimarer Weltbrand
Heute vor zwei Jahren brannte in Weimar die Anna Amalia Bibliothek. Niemand, der dabei war, wird die Nacht je vergessen, und selbst wer nur die ersten Bilder spätabends in den Nachrichten sah, spürt noch heute die Gänsehaut. Flammen schlugen aus dem Dach des historischen "Grünen Schlosses", der zerbrechliche Rokokosaal, das Herz des Büchertempelchens, wurde stark beschädigt, und fast fünfzigtausend Bände gingen im Feuer verloren. Es war nicht nur der schwerste Bibliotheksbrand der deutschen Nachkriegszeit, es war, wie der Dichter Durs Grünbein später bemerkte, "ein Weltenbrand, wenn auch im Kleinen nur".
Das Unglück, das vollends tragische Züge erhielt, weil es sich kaum fünf Wochen vor dem geplanten Umzug der Bibliothek in nagelneue Depots ereignete, löste aber auch eine beispiellose Hilfsbereitschaft aus. Was Politiker und Kommentatoren gleich nach der Katastrophe nur zu hoffen gewagt hatten, trat tatsächlich ein: Die Nation eilte herbei, sammelte, spendete und vergaß im Eifer der Solidarität für eine Weile alle Verspannungen zwischen Ost und West. "Es konnte einen", hat der Schriftsteller Martin Mosebach geschrieben, "in dieser Bibliothek unversehens eine heftige Liebe zu Deutschland überkommen." Nun überkam ganz Deutschland eine praktische Liebe zu Weimar.
Von beidem, vom Schrecken der Brandnacht und der Solidarität der Monate danach, erzählt Michael Knoche, der Direktor der Anna Amalia, in seinem Buch "Die Bibliothek brennt". Es ist eine detaillierte Chronologie der Ereignisse, mit gelegentlichen Einschüben zur Baugeschichte des Hauses, zu den Schätzen der Bibliothek und einer Bilanz der Schäden. Emotionen verbietet sich Knoche dabei so streng wie jedes Pathos. Sein Text ist von einer geradezu eisernen Sachlichkeit. Was ihm durch den Kopf gegangen ist angesichts der schmierigen Klumpen, die einmal Bücher gewesen waren, oder angesichts der Gerüchte, er selbst habe den Brand gelegt, das erfährt der Leser allenfalls in Andeutungen. Es geht nicht um ihn, den Bibliotheksdirektor, es geht um die Bibliothek und mehr noch um das Bewußtsein für den Wert des bedrohten Kulturerbes. Selten flicht Knoche einen persönlichen Satz ein, im ersten Kapitel etwa, wenn er bekennt, beim Anblick der Flammen den Impuls verspürt zu haben, "umzukehren und in die Dämmerung des Parks einzutauchen, um nicht wahrhaben zu müssen, was ich sah". Tatsächlich hat Knoche sich für das Gegenteil entschieden und minutiös aufgezeichnet, was er gesehen, getan und erlebt hat in der Zeit zwischen der Brandnacht und dem 5. Februar 2005, dem lang ersehnten Tag der Eröffnung des neuen Studienzentrums der Anna Amalia Bibliothek.
"Ein Bericht aus Weimar" heißt sein Buch schlicht im Untertitel, aber es ist viel mehr als das. Es ist auch eine Einführung in das Innenleben einer Bibliothek, ein Schnellkurs in Brandkunde und Nachbarwissenschaften, und, nicht zum wenigsten, eine Danksagung an die vielen, die mitgeholfen haben, zu retten, was eben zu retten war. Knoche preist die Freiwilligen, die sich in der Brandnacht an der Bibliothek einfanden und anpackten, wo Hilfe benötigt wurde; die Spedition, die auf eigene Faust Hunderte Umzugskisten lieferte und damit die Evakuierung der Bücher aus dem brennenden Haus wesentlich erleichterte; den Radiosender, der mitten in der Nacht, als sich die Menschenkette zwischen Bibliothek und Depot lichtete und vielen Helfern die Kräfte ausgingen, neue Freiwillige herbeitrommelte; auch die vielen einzelnen vergißt Knoche nicht, den stellvertretenden Einsatzleiter der Feuerwehr etwa, der den Bibliotheksdirektor ohne Zögern in den einsturzgefährdeten, längst gesperrten Büchersaal begleitete, um eines der wertvollsten Stücke, eine Luther-Bibel, herauszuholen. Oder die Gattin des Bundespräsidenten, Eva Luise Köhler, die gemeinsam mit ihrem Ehemann den sonst stets freigehaltenen Abend ihres Hochzeitstages "opferte" für ein Benefizkonzert zugunsten der Anna Amalia am Berliner Gendarmenmarkt.
Es sind solche fast beiläufig, jedenfalls ganz unspektakulär notierten Begebenheiten, die dem Bericht trotz aller Nüchternheit etwas Fesselndes und Bewegendes geben. Und mitunter riskiert Knoche gar ein wenig Ironie, zumal, wenn er aus jener fremden Welt der Medien und des Marketing erzählt, in die er sich nur zögerlich begeben hat, um Geld für seine Bibliothek aufzutreiben. Über einen Auftritt im ZDF-"Morgenmagazin" etwa heißt es wunderbar lakonisch, "in der Sendung kam das Thema ,Bibliotheksbrand' unmittelbar nach der Berichterstattung über einen Riesenbaumkuchen aus dem Odenwald an die Reihe. Das Medium Fernsehen verleiht jedem Ereignis die gleiche Außergewöhnlichkeit." Und von einem Mittagessen mit Vertretern der Firma Vodafone hat Knoche die aufmunternden Worte seines Tischnachbarn in Erinnerung behalten: "Wir haben die Netze, ihr habt die Contents. Das paßt." Man kann nur ahnen, mit welcher Miene Knoche diese Mitteilung zur Kenntnis genommen hat. Immerhin ging sie mit einer Spende von fünf Millionen Euro einher.
Michael Knoche: "Die Bibliothek brennt". Ein Bericht aus Weimar. Wallstein Verlag, Göttingen 2006. 144 S., geb., 16,- [Euro].