Theater Meiningen :
Ein Prosit auf unmoralische Verhältnisse

Von Robin Passon
Lesezeit: 4 Min.
Kurz Ärmchen: Paul Maximilian Schulze und Pauline Gloger
Die traurigen Potentiale der Farce werden hier eindrucksvoll vorgeführt: Andreas Kriegenburg inszeniert Brechts „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ am Staatstheater Meiningen
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Kaum waren am Silvesterabend die letzten Sektflöten geleert, tönte der Ruf nach dem „dry january“, also einem nüchternen Monat, in dem man Geist und Leber Erholung nach der alkohollastigen Weihnachtszeit gönnt. Solche Problematisierungen würden der Titelfigur von Bertolt Brechts 1940 entstandenem Theaterstück „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ nie einfallen. Für ihn ist die Nüchternheit ein krankhafter Zustand, in dem der kapitalistische Gutsbesitzer, der er ist, zutage tritt. Betrunken hingegen wird er Mensch und darf ein Salonkommunist sein, der seinen Chauffeur Matti mit seiner Tochter Eva verheiraten will und auf die geplante Vernunftehe mit einem Attaché pfeift.

Textiler Mustermix

Mitten in den „dry january“ hinein setzt das Staatstheater Meiningen diese dramatische Trinkverlockung auf den Spielplan und präsentiert Brechts Stück in einer Inszenierung von Andreas Kriegenburg. Von der finnischen Birkenwaldidylle hat er nichts als ein karges Laubsägenbühnenbild und den textilen Mustermix der Arbeiterfrauen übrig gelassen. Ausgangspunkt für den in die Provinz abgebogenen Regiealtmeister ist die Einfachheit, mit der in der Commedia dell’arte Theater gemacht wurde und die auch Brecht als Idee für sein einziges Volksstück nach einer Vorlage Hella Wuolijokis nannte.

Beeindruckendes Durchhaltevermögen

Wenn aber dieser so archetypische Puntila nach dem anfänglichen Saufslapstick ausnüchtert, ist da kein Rennen und Springen, kein Lachen und Grölen mehr auf der Bühne, sondern Erstarrung. Wie hilflose Kinder eines Alkoholikers muss das Publikum dabei zusehen, wie aus Mattis Kumpel ein Monstrum wird, das versucht, ihn zu verdreschen. Vivian Frey spielt das mit einer markerschütternden Kälte und Konzentration, die vergessen macht, dass der gleiche Mann Augenblicke zuvor nicht nur in seinen schier endlosen Kleidern, sondern auch in der eigenen Zerstörungswut zu ertrinken drohte. Die Betrunkenheit nach Brechts Vorgabe „poetisch und zart, mit so viel Variation wie möglich“ zu spielen gelingt Frey mit beeindruckendem Durchhaltevermögen. Dauernüchtern, doch nicht weniger variabel steht ihm Paul Maximilian Schulze gegenüber, der hier ein ­akrobatisches Körpergefühl beweist, das jede Nachbesetzung fast unvorstellbar macht. Mit dem gekrümmten Rücken und dem schiefen Lachen des urtypischen Knechts wirbelt er Eva (rotzfreche Artistin: Pauline Gloger) durch den Holzkasten, lässt sich drangsalieren und erspielt doch ein ums andere Mal die kluge Ernsthaftigkeit, die diesen Knecht ausmacht.

Freakshow der anderen Art: Anja Lenßen, Mia Antonia Dressler, Paul Maximilian Schulze, Noemi Clerc
Freakshow der anderen Art: Anja Lenßen, Mia Antonia Dressler, Paul Maximilian Schulze, Noemi ClercChristina Iberl

Diese sozialen Zwischentöne sind es auch, auf die sich Kriegenburg fokussiert. Die brechtsche Systemkritik bleibt eher im Hintergrund. Ins Zentrum rückt er das Paar Eva und Matti. Kriegenburg macht klar, dass Eva nicht den Menschen in Matti sieht, sondern ihn zum Vehikel ihres Aufbegehrens instrumentalisiert und seinen Arbeiterhabitus aus Frustration mit der eigenen Klasse fetischisiert. Gerne sieht sich die Gutstochter in Kleid und Krawatte als Rebellin gegen die väterliche Hierarchie, und doch wird sie ihre Sozialisierung nie überwinden. Ihr gegenüber und Puntila zur Seite wird die gealterte Köchin Laina gestellt, die als gute Seele des Hofs mit kölscher Hemdsärmeligkeit die Strippen zieht. Anja Lenßen spielt sich als Bindeglied dieses sozialen Gefüges auf und bewahrt ihr Umfeld mit ausdauernder Gutmütigkeit vor der endgültigen Verbitterung.

Witze über Instagram

Denn als säße man auf einem tschechowschen Landgut, kann keiner der Bewohner dieser bedrückenden Enge der ländlichen Weite entrinnen. Wohl auch wegen dieser Abgeschlossenheit drohen einige Momente zu überdrehen und sich im Landklamauk zu verlieren. Nicht immer ist der Witz so brillant wie in den brechtschen Wortspielen und den akrobatischen Einlagen; einen Monolog Lainas könnte man in einigen Wochen beim Karneval auch als Büttenrede vortragen, und mitunter lässt sich Kriegenburg zu Witzen über Instagram und veganes Gulasch hinreißen, die umso weniger überzeugen, als die klare historische Verortung doch vermieden werden soll.

Gerade in der zweiten Hälfte blähen sich die Szenen zu sehr auf, verlieren ihr Gefühl für Rhythmus, das den Beginn des Abends noch so kurzweilig gemacht hat. In Schlüsselmomenten wie Evas Examen weiß Kriegenburg aber wieder, worauf es ankommt. Im Detail mag sich seine Regie verzetteln, sich womöglich dem Eifer der Probebühne allzu sehr hingeben, doch mit gutem Gespür für die Gesamtdramaturgie verliert er die Handlungsfäden nie aus den Augen. Als der Abend nach knapp drei Stunden an seinem Ende angelangt ist und sich für Matti und Laina die zertrümmerte Landidylle plötzlich weitet, schnürt Kriegenburg seinem Publikum die Kehle zu. Ohne bitter zu werden, stellt er plötzlich all den Witz infrage und ganz ernst die Frage: „Was tun?“

In dieser Uneindeutigkeit liegt der Reiz dieses Stücks, bei dem man schnell zu wissen meint, womit man es zu tun hat: Herr und Knecht, Alkohol und Liebeswirren: typische Komödie. Böser Kapitalist und moralischer Proletarier: Brecht. Dass ausgerechnet der Alkohol den Kapitalisten zum Menschen werden lässt und damit einen Ausweg aus den unmoralischen Verhältnissen weist, sprengt die Hülle der Komödie und legt das traurige Potential der Farce frei. Zwischen der Abgründigkeit Becketts und der Zärtlichkeit Tschechows balanciert Kriegenburg hier ein phantastisches Ensemble auf dem Drahtseil der traurigen Clownerie.

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