Moderner Tanzklassiker : Tanz einer gedankenversunkenen Göttin
Die Tänze von Trisha Brown sind von exquisiter Schönheit und intellektueller Unzugänglichkeit, Schwerzugänglichkeit mindestens. Zwar fühlt man sich keineswegs ausgeschlossen, während man ihnen zusieht, aber man spürt, dass sich unter den Augen des Publikums etwas vollzieht, das Naturereignissen eher ähnelt als mit bestimmten Absichten angefertigten menschlichen Artefakten. Natürlich kann man Blumen oder Gewitter erklären, aber wie groß und duftend, oder wie laut und blitzend und nass sie werden, hängt von einer Vielzahl nicht genau vorhersehbarer Faktoren ab.
Brown hingegen hatte alle ihre tänzerischen und choreographischen Faktoren und Prozesse meisterhaft unter Kontrolle und präsentierte die kostbaren Gebilde barfuß, schlicht, natürlich. Denn das Ereignis ist der neue Tanz, sind die Erkenntnisse, die der Kunst abzugewinnen sind, wenn man Tanz als Abseilen von einem Gebäude versteht oder New Yorker Dächer und Rasenflächen als Bühne nimmt, wenn Robert Rauschenberg deine Kostüme macht und dein Stück mit Fotografien bespielt. Das ist Freiheit. Sie selbst war tanzend eine gedankenversunkene Göttin.
Wie ein Tier im Dschungel, weise und schön
Brown war ein Genie, eine wahrhaft außerordentliche Künstlerin. Je länger sie fehlt – sie starb am 18. März 2017 im Alter von achtzig Jahren –, desto deutlicher wird, dass sie in Größe und Bedeutung ihres Werks neben Merce Cunningham gestellt werden muss, dass ihr Denken über Tanz zu anderen sichtbaren Ergebnissen kam als seines, aber unbedingt vergleichbar in Tiefe, Klarheit und Abstraktionsgrad ist. Manche von Cunninghams Tänzen sind viel, viel zugänglicher als Browns nichtnarrative, fabelhaft nichtrelationale Choreographien, denen emotionale Kommunikation so fremd ist, dass sich die Interaktion auf der Bühne teilweise wie eine Bebilderung von Symptomen des Asperger-Spektrums liest: Aber im Sinne von großartig, hochbegabt, selbst ermächtigt, nicht wunderlich oder schrullig.
Ein Bild aus den Sechzigerjahren zeigt Brown, wie sie auf Steve Paxtons pferdartig dargebotenem Rücken hockt und gerade in die Kamera schaut: tief zufrieden, zur richtigen Zeit, am richtigen Ort, wie ein sattes Tier im Dschungel, weise und schön. Sie war unergründlich.
Ein Unterschied im Nachleben beider Choreographen ist, dass Cunninghams Company aufgelöst wurde, ein tanzhistorisch entsetzlicher Irrtum. Die Trisha Brown Dance Company aber besteht weiter, spielt die New Yorker Saison und tourt international. Ihr Archiv wurde 2019 in das Jerome Robbins Dance Department der New York Public Library übernommen. 2023 vollzog das Ensemble einen großen Schritt in die Zukunft. Judith Sánchez Ruíz schuf als Erste eine Choreographie. Im November 2023 folgt die zweite Uraufführung: Noé Souliers „In the Fall“ ist eine meditative, wunderschöne Choreographie für acht Tänzer, ein Tanz für die Farben Gelb, Rot und Blau. „Fall“ meint die Jahreszeit, in der es dunkler und kälter wird, aber es meint auch den willentlich herbeigeführten Fall aus allen möglichen Disbalancen, in denen die Tänzer hier brillieren, oft noch in Zeitlupe den Moment des Sturzes in die nächste Haltung hinauszögernd. Diese verspielte, bildhauerische Manifestation erstaunlicher Kräfte, die Konzentration, eine geschlossene Welt, in der die Virtuosität endloser Balancen Normalität ist, all das hat viel mit Browns Kompositionsprinzipien zu tun. Viel Zeit verbringen die Tänzer auf der Bühne denn auch in einer selbst gewählten Einsamkeit – vielleicht Trauer.
Zu sehen war jetzt war Noé Souliers aufregendes Stück, das die Eroberungen der Postmoderne rekapituliert und ihre Versprechen erneuert, eingerahmt von zwei Werken Browns. Eingeladen war die Company ins Haus der Berliner Festspiele im Rahmen der Performing Arts Season. Browns Tänze – sie schuf etwa einhundert von ihnen zwischen 1961 und 2011 – sind mit mathematischer Strenge gebaut und spielen mit den Gesetzen der Physik, als wäre das kinderleicht. Jede ihrer Choreographien erschafft eine abstrakte, so zuvor noch nicht da gewesene Welt, eine Sphäre, in der phantastische Begegnungen und Gemeinsamkeiten entstehen, mit dem Publikum als glücklichen Zeugen.
Vielleicht bestand darin Browns Geheimnis: Die physische Virtuosität, die intellektuelle Unbeirrtheit und anziehende künstlerische Eigensinnigkeit ihrer Werke entstanden entlang der Gesetzmäßigkeiten der Erdanziehungskraft und geduldig ausgearbeiteter Formeln, in denen sie die Variablen Raum, Energie, Masse, Kraft, Körper, Zeit immer neu zusammenbrachte. Jedes Detail ihrer anmutigen, aber niemals sich andienenden Bewegungen verdient besondere Aufmerksamkeit, jedes Detail scheint sich ganz klar dem Tanzverstand zu erschließen, nur wie sie aus der Unendlichkeit des Alls der Ideen zu einem Ganzen, in eins gestürzt sind, das ist Browns Geist.
Die lakonisch vor- und zurückschwingenden Arme, die zu sagen scheinen „So what!“, die vor- und zurücktanzenden Schultern, wie ein verschwörerisches Zwinkern. Das elegante Rückwärts-Shuffeln wie von Marathonläufern, die plötzlich aus dem Bild verschwinden, in der Gasse: Browns Idee von Witz. Das anmutige Springen und sachliche Laufen von Achten, oder wie die Tänzer das Momentum jederzeit überraschend nutzen zu plötzlichen Richtungswechseln, das Quasiorganische, Alltägliche, Jedermannhafte ihrer Schritte, ihrer Moves, das exakte Phrasieren, wodurch das Allerweltsgehen plötzlich musikalische Erfüllung wird. Die Liebe zum „Kollisionskurs“ (Brown).
In Berlin waren alle diese Elemente freigelassen. Die herausragenden Tänzer der augenblicklichen Besetzung sind unfassbar sicher und präsent, ihre Bewegungen groß und charismatisch, so wie es sein soll. Sie lieben es sichtlich, Browns heiteres, buntes „Working Title“ von 1985 zu tanzen, das sie alle acht vereint. In „Glacial Decoy“ von 1979 zeigen vier Tänzerinnen in durchsichtig-weißen, gefältelten, blütenkelchartigen Kleidern ihre anmutigen Übersprunghandlungen vor Robert Rauschenbergs Schwarz-Weiß-Fotografien, die die Rahmen wechseln wie in einer Diashow. Nichts als die leisen Fußtritte dieser postmodernen vier weiblichen Geister ist zu hören.
Ihre wie aus der Tiefe der Tanzgeschichte in die Gegenwart gelangten Interventionen werden durch Rauschenbergs visuelle Erzählung vergangener Sommer am Strand wie eine kostbare Erinnerung gerahmt. Seine elegischen Bilder zeigen dünne Palmen vor einem verschleierten Himmel, das Meer, von den Wettern ausgewaschene Holzwände, verwitterte Lastwagen, abblätternde Werbung. Das Stück singt das Lied von der Unbeschwertheit langer Sommer der Jugend, aber mehr noch von der berührenden Schönheit in allem, von dem der Lack ab ist.