Eine Bilanz des Filmfestivals von Cannes 2024

Die Politik versuchte Cannes so gut wie möglich vom Festival fernzuhalten. Einfach ist das nicht, denn auch Stars haben ihren eigenen Kopf. So erschien Cate Blanchett in einem schwarzen Kleid mit weißer Rückenpartie, dessen Futter in sattem Grün auf dem roten Teppich strahlte – schnell identifizierte man die Farben als jene Palästinas; Blanchett ist eine Waffenstillstandsverfechterin der ersten Stunde. Zur politischen Aussage ihres Kleides äußerte sie sich nicht, doch auf dem roten Teppich ist nichts einfach nur Zufall. Der rote Teppich ist aber nur vermeintlich der Ort, um einen Blick auf Filmidole zu erhaschen. Besser geeignet ist ein Morgenspaziergang entlang der Croisette. Dort arbeiten sie joggend an ihren Traumkörpern, während Servicearbeiter die zahllosen Luxusstrandbars von Überresten nächtlicher Parties befreien. Die Körper, die wir im Kino sehen, sind makellos. Das formt unser Bild davon, wie sie auch abseits der Leinwand aussehen müssen. Agathe Riedingers Debütfilm „Diamant Brut“ folgt der neunzehnjährigen Liane, die als schöne Influencerin der Armut Südfrankreichs entkommen will. Sie verkauft geklaute Parfüms zu Schleuderpreisen in ihrer Nachbarschaft und spart das so erworbene Geld für Schönheitsoperationen, die sie dem Idealbild ihrer Social-Media-Vorbilder noch näher bringen sollen. Wir sehen sie bei einem Arzt, der ihr die Silikonmodelle für Gesäßvergrößerungen zur Probe unters Höschen schiebt. Sie streichelt prüfend und zufrieden über den straff gespannten Stoff. Wohin dieser Schönheitswahn führen kann, zeigt die französische Regisseurin Coralie Fargeat in „The Substance“. Demi Moore spielt darin eine alternde Schauspielerin. Um am Ruhm festzuhalten, spritzt sie sich ein Wundermittel, das eine „schönere, bessere Version“ ihrer selbst hervorbringen soll. Diese hat das Gesicht von Margaret Qualley und bricht aus Moores Rückgrat hervor – Fargeat hat David Cronenbergs Körper- Horror studiert und herausgefunden, wie sie mit dessen Mitteln eigene Themen erzählen kann. Die beiden Frauen teilen sich fortan ein Leben, mit den gleichen Konsequenzen, die Oscar Wilde seinem Dorian Gray mitgab: Wenn die Junge in den Exzess abgleitet, hinterlässt es bei der Älteren Spuren. Gebiert der Perfektionsdruck Monster? Fargeat hat darauf eine klare (und sehr blutige) Antwort – am Morgen nach der Premiere kommen einem weniger Jogger entgegen. Wieder in Cannes: Schrader, Coppola, Lucas Als Paul Schrader erfuhr, dass sein Film „Oh, Canada“ in Cannes laufen würde, postete er auf Facebook ein altes Foto, das ihn 1985 mit Francis Ford Coppola und George Lucas zeigt. Im Hintergrund wedeln französische Palmen. Nach vierzig Jahren sind die Wegbereiter des New Hollywood-Kinos gemeinsam zurück an der Croisette. Sie gehören nun zu den Altmeistern. Lucas erhält an diesem Samstag bei der Preisverleihung eine Ehrenpalme für sein Lebenswerk. Und was Schrader und Coppola zeigen, das schmeckt nach Abschied. „Oh, Canada“ blickt auf einen todkranken Künstler, der seine Lebensbeichte ablegt. Dafür hat Schrader zum zweiten Mal nach „American Gigolo“ Richard Gere als Hauptdarsteller engagiert. Eine kluge Wahl, die eine weitere Metaebene über den Film legt, denn der sterbende Künstler stellt sich selbst als notorischer Verführer dar, der zu spät die großen Fehler seines Lebens bereut – Gere nimmt man jedes Wort ab. Nichts bereut hat hingegen Coppola. Bei der Pressekonferenz zu „Megalopolis“ gefragt, ob ihn die 120 Millionen Dollar schmerzten, die er aus eigener Tasche in das Filmprojekt gesteckt hat, antwortete er gelassen: „So viele Menschen sagen am Ende ihres Lebens: Ich wünschte, ich hätte dies oder jenes getan. Wenn es für mich so weit ist, kann ich sagen: Ich habe jeden Film gedreht, der mir wichtig war.“ Auch „Megalopolis“ handelt vom Ende, dem Untergang eines Imperiums. Irgendwann im dritten Jahrtausend angesiedelt, zeigt er New York als neues Rom mit zugespitzten sozialen Verhältnissen. Die Armen leben auf engstem Raum und ohne Bildung, eine kleine, reiche Elite regiert die Stadt. Deren verwöhnte Kinder feiern Drogengelage – und nur ein Architekt (Adam Driver) träumt von einer besseren Zukunft. Eine Zusammenfassung des Inhalts ist kaum möglich, denn Coppola führt in 138 Minuten ein Figurenensemble mit Verwicklungen Shakespeareschen Ausmaßes zusammen und verbeugt sich gleichzeitig vor mehr als hundert Jahren Kinogeschichte – von den expressionistischen Schattenwürfen Fritz Langs über Fellinis Zirkus bis zu CGI-Experimenten, die der schwächere Teil der Inszenierung sind. Der Körper im Mittelpunkt Auf dem Heimweg steht eine Möwe mit ausgebreiteten Flügeln im auflandigen Wind. Genau dieses Bild hat Andrea Arnold in „Bird“ festgehalten. Die zwölfjährige Bailey (Nykiya Adams) wächst in einem besetzten Haus auf. Ihr Vater (Barry Keoghan) war selbst noch ein Kind, als er sie zeugte. Bailey kennt keine Angst, aber Wut und Sehnsucht. Manchmal wechselt die Kamera ins Hochformat der Smartphonevideos, die sie aufnimmt, blickt auf eine Distel in der Morgensonne, Graffitis auf Betonfassaden oder eben die Möwe im Wind. Der Film ist so rau und kantig wie seine Hauptfigur, die sich auf der Schwelle zur Pubertät befindet – Arnold gelingt hier eine der realistischsten und natürlichsten Szenen über die erste Menstruation, die man bislang im Kino gesehen hat. Überhaupt steht der Körper überall im Mittelpunkt. Erhitzt, verschwitzt, in Bewegung, beim Tanzen oder beim Sex. Jacques Audiard inszeniert in „Emilia Pérez“ die Frauwerdung eines mexikanischen Drogenbosses als Musical – Zoe Saldana tanzt als korrupte Anwältin durch die Straßen von Mexiko-Stadt. Der ehemalige Drogenboss verliebt sich im neuen Frauenkörper in eine Witwe, die ihren Mann im Bandenkrieg verloren hat – Sex als Ausdruck der Selbstfindung. Ben Whishaw dreht in Kirill Serebrennikows „Limonov“ als russischer Exil-Schriftsteller mit der Geliebten überschwängliche Kreise in New York, bevor er sie leidenschaftlich aufs Bett wirft – Sex als Droge, die so abhängig machen kann, dass Leben in Gefahr geraten. Yorgos Lanthimos greift im Episoden-Triptychon „Kinds of Kindness“ den absurden Ton seiner frühen griechischen Filme wieder auf. Emily Stone, die ihren Künstlernamen „Emma“ ablegen will, spielt mal eine Zahnarztassistentin, die zur Mordhelferin wird, mal eine Meeresbiologin, die verwandelt von einer einsamen Insel zurückkehrt, und zuletzt eine Mutter, die ihr Kind verlässt, um den Erlösungsversprechen einer Sekte zu folgen. Im cognacbraunen Anzug bewegt sie vor einem lilafarbenen Dodge ihre Hüften – das Video ging zur Premiere viral – Sex als Machtspiel, Mittel zur Kontrolle, Besitznahme eines fremden Körpers. Sean Bakers „Anora“ hingegen beginnt mit einem langen Blick auf die Hintern von Striptänzerinnen. Wer hier die Hüften um polierte Stangen wickelt und auf dem Schoß der Kunden reibt, hat Tanz längst als Ware akzeptiert. Für die titelgebende Anora (Mikey Madison) ist das Verkaufen ihres Körpers der schnellste Weg, den prekären Verhältnissen zu entkommen, in die sie als Tochter russischer Einwanderer geboren wurde. Als ihr ein Oligarchensohn ein unmoralisches Angebot macht, glaubt sie ihren Prinzen gefunden zu haben – Sex als ein Spielzeug für ihn, das man kaufen und wegwerfen kann, für sie jedoch Ausdruck ihrer wachsenden Zuneigung. Was wie „Pretty Woman“ im Mobmilieu beginnt, wird zur wilden Komödie – und dem interessantesten politischen Statement des Festivals.