Gregor Schneiders „Sterberaum“ : Wie ein Säulenheiliger unserer Zeit
Ein Mann sitzt am Fenster. Schaut von draußen in einen hellen, leeren Raum. Weiße Wände, Fischgrätenparkett, hellbraune Bodenleisten. Die hohen Fenster haben Bauhaus-Griffe und breite Bänke, unter denen vielleicht Heizungen stehen und ihre Wärme in Schüben nach oben schicken. Der Mann sitzt schon lange hier. Hin und wieder lehnt er sich vor, fährt sich mit der Hand über die Stirn, rutscht auf seinem Stuhl zurück. In seinem Rücken: ein leerer Zuschauerraum mit achthundertachtzig matt beleuchteten Klappsitzen. Verlassen liegt er da, wie ausgestorben.
Ums Sterben geht es tatsächlich in dieser intimen Rauminstallation des einundfünfzigjährigen Künstlers Gregor Schneider, für die das Staatstheater Darmstadt drei Tage lang ihre Website zur Verfügung stellt. Noch bis zum morgigen Sonntag, 22.30 Uhr, kann man unter www.staatstheater-darmstadt.de Tag und Nacht live auf die große Bühne des Theaters schalten und in drei Perspektiven auf Schneiders „Sterberaum“ schauen. Aus der Ferne, über das menschenleere Parkett hinweg, aus der Nähe, von rechts und von links. Der Künstler ist die ganze Zeit anwesend. Mal legt er sich auf eine Liege, um zu schlafen, mal bringt ihm jemand etwas zu essen, aber meist sitzt er still da wie ein Säulenheiliger unserer Zeit. Er schaut stellvertretend für uns alle durchs Fenster in den leeren Raum mit dem warmen Licht. Das wäre ein guter Platz zum Warten, genau der richtige Ort, um abgeholt zu werden vom Tod, der durch die Tür tritt und einen sanft hinausgeleitet zur Sonne, zum Licht.
Von Mies van der Rohe inspiriert
2008 sorgte Gregor Schneider für Aufregung, weil er plante, in diesem Raum einen Menschen öffentlich sterben zu lassen, um das gesellschaftliche Tabu um den Tod zu lösen. Jetzt, im Angesicht von Corona, hat der Künstler die Idee modifiziert und seinen von Mies van der Rohes Museum Lange inspirierten „Sterberaum“ als Gedenkort umgedeutet. Mit ihm zusammen kann man hier schauen und „Stille bewahren“, wie es bei Benn heißt – der knapp 56.000 Corona-Toten in Deutschland gedenken oder sich auf den eigenen Tod vorbereiten. Die letzte „unverfügbare Erfahrung“, wie Schneider sagt, die uns zeigt, „was es heißt, ein Mensch zu sein. Denn dieses Schicksal teilen wir mit allen Menschen.“
In einer Zeit, wo diese universale Grundbedingung immer lauter in Frage gestellt, immer mehr statt auf Menschlichkeit auf Identitätsebenen verwiesen wird, mahnt Schneider ein Innehalten an. Sein Raum steht somit auch für die Einkehr vom öffentlichen Marktplatz mit seinen aggressiven Diskursverhandlungen. Hier, vor den erleuchteten Fenstern auf der stillgelegten, dunklen Darmstädter Bühne, kann man die Stunden zählen, die uns alle verwunden, bis die letzte kommt, die tötet.