Litauen :
Europas musikalische Mitte

Jan Brachmann
Ein Kommentar von Jan Brachmann
Lesezeit: 2 Min.
Zählt zu den führenden Frauen Europas auf dem Dirigierpodium: die Litauerin Mirga Gražinytė-Tyla
Mehr und mehr litauische Musikerinnen und Musiker stehen an der Spitze Europas, wie nun die International Classical Music Awards bestätigen. Sie könnten daran erinnern, dass das Land auch geografisch die Mitte unseres Kontinents bildet.
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In dem Memorandum, das die Salzburger Festspiele zu ihrer Jahrhundertfeier 2020 aufsetzen ließen, steht der Satz: „Salzburg liegt nicht nur geographisch in der Mitte Europas.“ Nun weiß man nicht, wie die Verfasser dieses Memorandums „Europa“ definieren (es gibt ja auch Leute, die den Mont Blanc und nicht den Elbrus für den höchsten Berg des Kontinents halten). Auch darüber, wie gut deren Geografieunterricht gewesen sein mag, ist nichts bekannt.

Aber pünktlich zur sogenannten Osterweiterung der Europäischen Union am 1. Mai 2004 kam der äußerst gewitzte Dokumentarfilm „Die Mitte“ des polnischen Regisseurs Stanisław Mucha in die Kinos. Nach amüsanten Reisen zur napoleonischen, zur franz-josephinischen und zur wilhelminischen „Mitte“ Europas stellte er klar: Wenn man Europa nicht politisch und nicht aus der Perspektive eines lateinisch geprägten Alleinvertretungsanspruchs, sondern gemäß der 1989 festgelegten Konvention des Nationalen Geographischen Instituts Frankreichs versteht, nämlich als jenen Erdteil, der sich vom Ural bis zu den Azoren und von Spitzbergen bis zu den Kanaren erstreckt, dann liegt dessen Mitte in – Litauen!

Hier liegt das Epizentrum des Besonderen

Also viel weiter östlich und viel weiter nördlich, als man sich das in Salzburg, diesem „Epizentrum des Besonderen“ (wie es im Memorandum weiter heißt), so denkt. In den vergangenen Jahren triumphierten nicht nur in Salzburg mit Asmik Grigorian, Vida Miknevičiūtė und Aušrinė Stundytė gleich drei überragende Sopranistinnen aus Litauen auf der Opernbühne. Mirga Gražinytė-Tyla und Giedrė Šlekytė, beide Litauerinnen, zählen zu den führenden Frauen Europas auf dem Dirigierpodium. Und gerade sind die Träger der International Classical Music Awards (ICMA) für 2023 bekanntgegeben worden, Kritikerpreise aus einem Zusammenschluss europäischer Fachmagazine für klassische Musik von Großbritannien über Spanien, Frankreich und Polen bis nach Finnland.

In deren Jury wird Deutschland durch Anastassia Boutsko, Musikredakteurin der Deutschen Welle, Gerald Mertens, Chefredakteur des Magazins „Das Orchester“, und Martin Hoffmeister, Musikredakteur von MDR Klassik, vertreten. Den Preis für sein Lebenswerk erhält der litauische Cellist David Geringas. Als beste Vokalmusikeinspielung wurde die CD „Dissonance“ ausgezeichnet, mit Liedern von Sergej Rachmaninow, gesungen von Asmik Grigorian, begleitet vom litauischen Pianisten (und Zweitplatzierten des Tschaikowsky-Wettbewerbs 2015) Lukas Geniušas. Litauen liegt also nicht nur geographisch in der Mitte Europas. Das Land scheint auch musikalisch ein Epizentrum des Besonderen zu sein. Der Westen, der sich für die Mitte hält, darf zuhören und nachdenken.

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