TV-Serie „The Fall“ : Wir schauen auf den Täter und er sieht uns
Diese Serie wurde in Großbritannien als beste Serie in Dekaden gefeiert. Und sie wurde zugleich verdammt: sie sei frauenfeindlich und stelle sexuelle Gewalt aus. Auf dem Höhepunkt der Kontroverse sah sich ihr Autor, Allan Cubitt, der in einigen Folgen auch Regie führt, genötigt, im „Guardian“ Stellung zu beziehen: „The Fall“, das bei uns mit dem Zusatz „Tod in Belfast“ läuft, sei ein feministisches Stück. Muss eine Kriminalserie, die von männlichem Voyeurismus und brutaler sexueller Erniedrigung handelt, dieses nicht auch zeigen dürfen? Jetzt können die deutschen Zuschauer sich ein Bild davon machen, was britische Kommentatoren eine „Übung in Unvorhersehbarkeit“ nannten und was zu gigantischen Einschaltquoten führte. Es treten auf: Detective Superintendent Stella Gibson und der Serienmörder Paul Spector.
In sechsmal neunzig Minuten ist im ZDF zu sehen, wie die Abgesandte der Londoner Polizei in Belfast dem Täter allmählich auf die Spur kommt, ohne weitere Frauenmorde verhindern zu können. Wie die nordirische Polizei sich im Geflecht von historisch bedingten Konflikten, Korruption und Gewalt schwertut mit der Vorstellung eines „ganz normalen“ Psychopathen, der im Alltag perfekt unauffällig funktioniert. Jägerin und Gejagtem wird gleich viel Aufmerksamkeit zuteil. Und auch die weiblichen Opfer werden mit ihren Geschichten vorgestellt.
Täter, Opfer, Ermittlerin
„The Fall“ beginnt mit einer programmatischen Festlegung. Drei gleichwertige Expositionen. Eine Frau putzt das Bad gründlich, offenbar bereitet sie sich auf eine längere Dienstreise vor. Warum reinigen, was man erst einmal nicht wieder benutzt? Es wirkt rituell. Ob der Gedanke an selbsthergestellte Makellosigkeit beruhigt? Wenn ja, dann gilt dies auch für die Ermittlerin Stella Gibson (Gillian Anderson) und den Frauenmörder Paul Spector (Jamie Dornan), der gleich darauf beim Einbruch in das Haus der attraktiven Junganwältin Sarah Kay (Laura Donnelly) zu sehen ist. Er prüft ihre Wäsche, schneidet kleine Schleifen als Trophäen ab, arrangiert ein bizarres Tableau aus Kleidungsstücken und Sexspielzeug auf dem Bett, isst eine Orange und hinterlässt die Schale. Er nimmt sich Zeit mit seinen Botschaften. Er will die Frau wissen lassen von der Kontrolle, die er über ihr Leben und Sterben zu übernehmen gedenkt.
Die dritte Eröffnung zeigt das spätere Opfer mit einem Kollegen in einer Bar. Während er sie anflirtet, erzählt sie von einem Volk, bei dem das Matriarchat funktioniert. Männer werden zu „süßen Nächten“ eingeladen – stets geht die Initiative für Sex von Frauen aus. Dieses Volk habe nicht einmal Wörter für Vergewaltigung und Mord. Zu Hause alarmiert sie tief verstört die Polizei. Es ist dasselbe Team, das später als erstes am Tatort eintrifft, wenn Sarah Kay tot sein wird. Ums Leben gebracht von Paul Spector, dessen Identität von Beginn an klar ist, der tagsüber als Trauertherapeut einfühlsame Gespräche mit Hinterbliebenen führt, ein aufmerksamer Ehemann von Sally Ann (Bronagh Waugh) ist und seine Kinder zu lieben scheint.
Polizistin, Täter, Opfer – an den Psychogrammen aller drei ist „The Fall“ interessiert. Verstörend aber, dass man über den Täter, seine abscheulich inszenierten Taten und seinen harmonischen Alltag am meisten erfährt, einiges über die Opfer und am wenigsten über die Ermittlerin, die Gillian Anderson atemberaubend kühl gibt. Von ihr weiß der Zuschauer nur das, was sie tut und sagt. Dass sie sich einen Detective für die Nacht aufs Zimmer bestellt, irritiert die Kollegen über die Maßen. Sie ist die selbstbestimmteste und schillerndste Figur. Rätselhafter als der Killer, dessen Motive zwar nicht entschuldet, aber nach und nach sanft manipulierend nachvollziehbar gemacht werden. Bis zum nächsten abstoßenden Ausbruch der Gewalt. Komplex ist nicht nur die Handlung, sondern auch die Gefühlsachterbahn, auf die der Zuschauer geschickt wird. Irgendwann wendet sich Paul Spector, der seine Taten filmt und Trophäen sammelt, direkt in die Kamera und provoziert den Betrachter als Voyeur. Man darf sich ertappt fühlen. Und guckt weiter, trotz schleichenden Unbehagens.
In den neunziger Jahren zeichnete Allan Cubitt für die zweite Staffel der britischen Serie „Heißer Verdacht“ („Prime Suspect“) verantwortlich. Er entwickelte die von Helen Mirren verkörperte Hauptfigur Jane Tennison weiter – eine Figur, ohne die weder Kommissarin Lund noch Stella Gibson vorstellbar sind. Frauen, die in der Polizeihierarchie Macht haben und sie einsetzen. Die nicht als verkleidete Männer auftreten. Auf einer tieferen Ebene jenseits der – teilweise unerträglich expliziten – Serienmordgeschichte bewegt „The Fall“ die Spielarten von und Erwartungen an weibliche und männliche Sexualität, gesellschaftliche Rollenmuster, die Verteilung von Macht und Kontrolle. Und das nicht irgendwo, sondern in Belfast, einer schwer beschädigten Stadt, deren Bewohner mit lauter Konflikten leben.
Ist das nicht frauenfeindlich?
Auf vermeintliche Frauenfeindlichkeit ist „The Fall“ nur schwer zu reduzieren. Die Serie zeigt in den oberen Hierarchien der nordirischen Polizei und Politik bemerkenswert schwache männliche Figuren wie den Polizeichef Jim Burns (John Lynch). Die Aufklärung der Morde kreuzt sich mit der Aufklärung politisch motivierter Verbrechen und krimineller Geschäfte wie Drogenhandel und Prostitution. Zahlreiche Nebenfiguren und Schauplätze ergeben eine dunkle Grundierung der Geschichte, die von der angelsächsischen Kritik als „Ulster Noir“ beschrieben wurde.
Politischer Eiertanz ist im hochgesicherten Belfaster Polizeipräsidium an der Tagesordnung. Im Flur grüßt eine Tafel mit unzähligen Porträts ermordeter Polizisten die aus London in eine fremde Welt mit eigenen Spielregeln eintretende Stella Gibson. In der sie sich besser zu behaupten weiß als viele der einheimischen Polizisten. Dass die Shankill Road Unionistenhochburg und nur mit Vorsicht zu betreten, dass der ehemalige Untergrundkämpfer James Tyler (Brian Milligan), dessen Weg sich mehrfach mit Spectors verbindet, nicht so ohne weiteres zu vernehmen ist, ignoriert Gibson. Eine ihre Stärke in dieser von gewaltsamer Separation geprägten Umgebung ist ihre Ungebundenheit. Dass sich dahinter mehr verbirgt, als bis zuletzt zu ahnen ist, werden die weiteren Staffeln dieser brillant komponierten und gespielten, vielschichtigen Serie zeigen.
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