Nicole Kidman in „Babygirl“ : Mit weit geöffneten Augen zum Orgasmus
Was wäre, wenn Alice Harford, der laszive Blondschopf mit Streberbrille aus „Eyes Wide Shut“, sich ihrer Lust hingegeben hätte? Wenn sie sich anders entschieden und während des gemeinsamen Urlaubs mit ihrem Ehemann doch mit dem fremden Marineoffizier geschlafen hätte? Stanley Kubricks letzter Film von 1999 verrät es nicht. Alice, gespielt von Nicole Kidman, gesteht ihrem Mann bloß eine erotische Phantasie, die ausreicht, ihn, wild vor Eifersucht, auf einen nächtlichen Streifzug durch New York zu schicken, bereit, realen Versuchungen nachzugeben.
Fünfundzwanzig Jahre später erkundet die niederländische Regisseurin Halina Reijn diesen von Kubrick offengelassenen Möglichkeitsraum. „Babygirl“ lautet ihre filmische Antwort auf sein Was-wäre-wenn. Ihre Alice heißt zwar Romy, bleibt aber eine Kidman. In „Babygirl“ ist sie (wie auch im realen Leben) Mitte fünfzig und verkörpert eine erfolgreiche weibliche Version von Jeff Bezos in Seidenkleidern und Spitzenblusen. Als Geschäftsführerin in der Lagerrobotik lebt sie mit ihrem Mann, dem Theaterregisseur Jacob (Antonio Banderas), und ihren zwei jugendlichen Töchtern das Abziehbild einer Vorzeigefamilie in New York.
Ein Lustspiel von Macht und Unterwerfung
Doch heile Welten geben selten gute Filmplots ab. Schon in der ersten Einstellung entlarvt die Kamera Romy als Lügnerin: Sie fängt deren abgewandtes Gesicht ein, während sie beim Sex mit ihrem Mann dem Höhepunkt entgegenstöhnt. Lange Atemzüge. Sinnliches Wimmern. Es ist kein echter Orgasmus, den nämlich hat sie erst, als sie anschließend vor dem Laptop zu einem Porno masturbiert, in dem eine Frau „Daddy“ ruft.
Reijn belässt es, anders als Kubrick, aber nicht dabei, die unerfüllten Begehren ihrer Protagonistin auszubuchstabieren. Auf dem Weg zu ihrem Unternehmen, in dem Roboter gurskyhafte Warenhaufen sortieren, wird Romy von einem Schäferhund bedroht. Ein junger Mann ruft den Hund zur Räson – und Romy erkennt in ihm die Fleischwerdung ihrer Lust. Denn Samuel (Harris Dickinson), der sich kurz darauf als neuer Praktikant der Firma vorstellt, weiß nicht bloß mit wild gewordenen Schäferhunden umzugehen (angeblich mögen sie Kekse), sondern auch, dass Romy nach sexueller Dominanz sucht.
Das sich daraufhin entspinnende Lustspiel von Macht und Unterwerfung ist zwar europäisch freizügig inszeniert – Kidmans nackter Muskelmädchenkörper trägt weder Falten noch Fett –, bleibt in den Ausführungen aber eher amerikanisch prüde. Wenig glaubhaft gelingen etwa die Szenen, in denen Theaterregisseur Jacob sich nach neunzehn Jahren Ehe weigert, sich gemeinsam mit seiner Frau einen Porno anzusehen. Romys Frustration im Ehebett ist die Prämisse, die Reijns Film konstruieren will, um der Protagonistin die Suche nach sexueller Erfüllung mit Samuel zuzugestehen. Gebraucht hätte der Film das nicht, um glaubhaft zu wirken.
Keine einfache Geschechterverkehrung
Aber „Babygirl“, das anders als „Eyes Wide Shut“ keine Buchvorlage hat, legt seinen Fokus nicht auf den narrativen Überbau, der zum Sex zwischen Romy und Samuel führt – insofern hatte der Zuschauer, der während der Erstvorführung beim Filmfest in Venedig „Porno“ rief, nicht völlig unrecht. Was den Film ausmacht, ist, zumindest vordergründig, die Spannung, die sich aus der Konstellation entfaltet: Bald findet Romy sich kniend auf dem Teppichboden eines ranzigen Hotels wieder, willig, ihrem fast dreißig Jahre jüngeren Gegenüber seine Leckerlis aus der Hand zu fressen. Zugleich aber ist sie nicht sicher, wie weit sie für ihre Lust gehen will.
Jasper Wolfs Kameraführung macht den Zuschauer zum Voyeur; nicht beim Liebesspiel, sondern in allen vulnerablen Momenten: Wenn Romy sich das Gesicht mit Botox noch glatter ziehen lässt, wenn sie sich mit Samuels Krawatte im Mund befriedigt, wenn sie in der Therapie ihre Kindheit in einem Kult verarbeitet. Die Klanglandschaften Cristobal Tapia de Veers („The White Lotus“), die mitunter nur aus bebend-rhythmischem Stöhnen und Luftschnappen bestehen, verstärken den Effekt noch.
Doch nur auf den ersten Blick ist die Beziehung zwischen Dickinson und Kidman das zentrale Motiv. Beide spielen überragend. Dickinsons Janusköpfigkeit – er ist zugleich dominant und eingeschüchtert – verleiht seiner Figur Lebendigkeit, die er qua seiner Rolle als Sexualfantasie kaum hätte. Allerdings ist es der Widerspruch in Romy selbst, der das Gravitationszentrum bildet. Denn „Babygirl“ leistet mehr als eine schlichte Verkehrung der Geschlechterrollen. Die Beziehung zwischen Romy und Samuel ist keine Spiegelung der seit dem Kino der Neunziger rauf- und runtererzählten Trope vom erfolgreichen Mann, der den Versuchungen einer jüngeren Frau erliegt wie etwa in „Pretty Woman“ und „Ein unmoralisches Angebot“.
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Zum News-QuizUngekannte Freizügigkeit
Romy will sich zwar gegen alle Widerstände ihrer egoistischen Lust hingeben, ist bereit, dafür Ehe und Job aufs Spiel zu setzen, doch kommt sie dabei nicht aus ihrer Haut: Sie empfindet es als lächerlich, wie sie und Samuel miteinander im Rollenspiel umgehen, schämt sich für ihren nackten Körper, bemuttert obendrein ihren Gespielen, von dem sie sexuell dominiert werden will. Sie bleibt eine Frau, der alle gesellschaftlichen Widersprüche ihres Geschlechtes eingeschrieben sind – schön sein zu müssen, während sie arbeitet wie ein Tier, sexuell verfügbar sein zu müssen, auch wenn ihr nicht danach ist, sich zu kümmern, obgleich das Gegenüber erwachsen ist. Dass es Kidman gelingt, diese Gleichzeitigkeit aus Stärke und Verletzlichkeit, Lust und Sorge, Liebhaberin und Mutter zu balancieren, ist der eigentliche Clou von Reijns Film.
Frauen mittleren Alters wie Demi Moore („The Substance“), Pamela Anderson („Last Showgirl“) und Nicole Kidman stehen derzeit in bislang ungekannter Freizügigkeit, psychisch wie physisch, vor den Kameras. Das liegt nicht etwa daran, dass es keine jungen Kolleginnen ihres Formats gäbe, die bereitstünden, in ihre Fußstapfen zu treten – oder Regisseure, die Lust hätten, Filme mit promiskuitiven weiblichen Hauptrollen in ihren Zwanzigern zu drehen wie noch vor dreißig Jahren. Es liegt daran, dass nun endlich vermehrt Regisseurinnen hinter die Kameras treten, wie es bei diesen drei Filmen der Fall ist. Unter achtzig Oscar-Nominierungen für die „Beste Regie“ gab es seit 2010 sieben weibliche Anwärter. Es war der männliche Blick, der Frauen über fünfzig als Sexualsubjekte von der Leinwand verbannte, während Männer gleichen Alters zu „Silver Foxes“ stilisiert wurden.
Doch während Alice es sich 1999 in „Eyes Wide Shut“ noch versagte, ihre Phantasien auszuleben, hat Romy 2025 in „Babygirl“ den ersten Orgasmus mit dem Ehemann nur deshalb, weil sie ihrem Verlangen nachgibt. Und wenn sie diesen Höhepunkt erreicht, dann sind ihre Augen weit geöffnet.