Shakespeare gecancelt : Rechte Cancel Culture
Bei all dem, was gerade verboten, gestrichen, verfemt und zensiert wird, kann man schon einmal den Überblick darüber verlieren, wer eigentlich genau cancelt. Von welcher Seite her gesäubert oder gelöscht wird. Traditionellerweise waren es bisher vor allem die an amerikanischen Eliteunis beheimateten Morallinken, die kanonisierte Werke etwa der Musikgeschichte oder Weltliteratur mit einer Warnung versahen oder aus den Lehrplänen strichen. Die bei Dostojewski oder Puccini Szenen ausmachten, die auf eine sensibilistische Leser- oder Zuhörerschaft zu provozierend, beleidigend oder verstörend wirken könnten.
Zensurvorschlag von rechts
Jetzt aber holt die Opposition zum Gegenschlag aus. So erregte in der vergangenen Woche die Meldung Aufsehen, dass in Hillsborough County, einem Landkreis im amerikanischen Bundesstaat Florida, die Werke William Shakespeares an öffentlichen Schulen nur noch in Auszügen gelesen würden. Anders als bisher ging die Initiative nicht von woken Lehrern aus, die in Shakespeares Werken von Homophobie über Rassismus bis Antisemitismus gefunden hätten, was aus Trigger-Perspektive für Alarm sorgt. Nein, dieses Mal kam es zum Zensurvorschlag, um den puritanischen Moralanforderungen des republikanischen Gouverneurs Ron DeSantis zu entsprechen. Jener hat in einem Akt kultureller Aneignung die Identitätspolitik der Linken adaptiert und versucht seit einiger Zeit eine Cancel Culture von rechts.
Sexfreie Auszüge
Nichts, was mit sexueller Orientierung oder Gender zu tun hat, darf zum Wohle der sensiblen Schülerseelen in Unterrichtsstunden jenseits der Biologie verhandelt werden, so lautet die Vorgabe eines neuen Schulgesetzes. Dieses trifft dann aber nicht nur populäre Kinderbücher über homosexuelle Pinguinpärchen, sondern auch Theaterstücke wie „Romeo und Julia“ oder „Ein Sommernachtstraum“, in denen es vor Unzüchtigkeiten aller Art bekanntlich nur so wimmelt. Laut der „Tampa Bay Times“ haben einige Lehrer mit Blick auf das Gesetz und potentielle Strafzahlungen in Aussicht gestellt, Shakespeare fortan nur noch in sexfreien Auszügen lesen zu lassen. Zwar erinnerten Experten eilig daran, dass die Werke des Weltdichters schon seit ihren Ursprüngen von Zensur bedroht gewesen seien, aber die Meldung klang trotzdem nach einer schockierend neuen Art des Ikonoklasmus.
Und auch wenn das Bildungsministerium von Florida inzwischen bekannt gab, dass man Shakespeare „auf keinen Fall aus den Klassenräumen verbannen“ wolle, lehrt der vorauseilende Gehorsam der Lehrkörperschaft doch, wie porös das Fundament inzwischen geworden ist, auf dem kanonische Kulturgüter stehen. Druck darauf ausgeübt wird heute von beiden politischen Seiten. Höchste Zeit also, dass sich in der Mitte ein ästhetischer Widerstand bildet.