Die Linkspartei muss ihre Führung neu ordnen. Der Westen kündigt Waffenlieferungen an die Ukraine an, die noch vor Kurzem tabu waren. Und: Hat Boris Johnson wissentlich die Unwahrheit gesagt? Alles Wichtige im F.A.Z.-Newsletter.
1. Führungskrise in der Linkspartei 2. Donbass-Offensive beeinflusst westliche Waffenlieferungen 3. Baerbock in Estland und Litauen 4. Wird „Partygate“ noch einmal gefährlich für Boris Johnson? 5. Rabiates Vorgehen gegen Corona-Patienten in Schanghai 6. Digitalisierung im Gesundheitswesen soll Standard werden 7. Ein Ladekabel für alles
Wie soll die Linke aus der Krise kommen? Parteichefin Wissler (links) und Nicht-mehr-Parteichefin Hennig-Wellsow bei einer Pressekonferenz nach der Bundestagswahl, bei der die Linke nur knapp in den Bundestag einzog. Zwischen ihnen Fraktionschef Bartsch.dpa
1. Führungskrise in der Linkspartei
Erst die desaströse Saarland-Wahl, dann die Enthüllungen über sexistische Übergriffe und nun der Rücktritt einer der zwei Parteivorsitzenden: Die Krise der Linkspartei spitzt sich zu.
„Ich entschuldige mich“:Die Linkspartei muss ihre Führungsspitze neu ordnen. Am Mittwoch hat sich die Bundesvorsitzende Susanne Hennig-Wellsow mit sofortiger Wirkung von ihrem Amt zurückgezogen. Zuvor hatten Enthüllungen über sexistische Übergriffe im hessischen Landesverband, die unter anderem den ehemaligen Lebensgefährten der zweiten Vorsitzenden Janine Wissler betreffen, die Partei in Entsetzen gestürzt. „Ich entschuldige mich bei den Betroffenen und unterstütze alle Anstrengungen, die jetzt nötig sind, um aus der Linken eine Partei zu machen, in der Sexismus keinen Platz hat“, schrieb Hennig-Wellsow in einer Stellungnahme, in der sie auch private Gründe für ihren Rücktritt angab. Die ehemalige Vorsitzende des Thüringer Landesverbands führte die Partei seit Februar vergangenen Jahres, immer wieder hat sie Unmut auf sich gezogen.
Immer mehr Betroffene: An diesem Donnerstag will die hessische Linke über das weitere Vorgehen im Umgang mit den Vorwürfen informieren. Allerdings hat sich das Ausmaß der Übergriffe ausgeweitet. Der Bundesvorsitzende der Jugendorganisation der Partei „Solid“, Jan Schiffer, spricht mittlerweile von 60 Betroffenen. Die Vorwürfe reichen demnach von sexistischen Sprüchen bis hin zu Vergewaltigungen und betreffen fast alle Landesverbände. Die Beschuldigten seien Verantwortungsträger in der Partei, aber auch einfache Basismitglieder. Die Jugendorganisation fordert eine komplette Neuaufstellung der Partei.
Fragen an Wissler: Es sage viel aus, dass ausgerechnet Hennig-Wellsow zurücktrete – während „diverse Täter und Täterschützer“ noch in ihren Ämtern seien, sagte „Solid“-Vorsitzende Sarah Dubiel. Fragen stellen sich vor allem an Wissler, die nach eigenen Angaben vor November 2021 keine Kenntnis von den Vorwürfen der sexuellen Belästigung und des Machtmissbrauchs gehabt und nach Bekanntwerden der Vorwürfe sofort gehandelt haben will. Allerdings gibt eine der Betroffenen an, sich schon im August 2018 hilfesuchend an Wissler gewandt zu haben. Rufe nach dem Rücktritt Wisslers – die, die Partei nach dem Rücktritt Henning-Wellsows vorerst allein führen will – hat Fraktionschef Dietmar Bartsch jedoch bereits zurückgewiesen. Er forderte seine Partei auf, keine „innerparteilichen Kriege“ mehr zu führen.
Grobes Gefechtsfeldwerkzeug: Eine M777-Haubitze der amerikanischen Streitkräfte (Archivbild von 2011)REUTERS
Westliche Staaten haben Lieferungen angekündigt, die noch vor Kurzem als undenkbar galten. Die russische Offensive verändert die Kriegsführung.
Einst tabu: Erste westliche Staaten – darunter die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Kanada – haben angekündigt, die ukrainischen Verteidiger mit Waffen zu unterstützen, die bislang undenkbar waren: Haubitzen, Luftabwehrsysteme und Kampfdrohnen, gepanzerte Fahrzeuge, Hubschrauber und Panzer. Schwere Waffen also, bei denen in den ersten Wochen des Kriegs die Sorge bestand, dass sie Russland provozieren und zu einer Eskalation des Konflikts führen könnten.
Grund: Im weitgehend freien Gelände der Ostukraine können die russischen Streitkräfte ihre Militärdoktrin mit starkem Artilleriefeuer und Vorstößen größerer Verbände besser umsetzen als im dichter besiedelten Norden rund um Kiew. Die Waffenlieferungen passen sich dem an.
Außenministerin Annalena Baerbock am Dienstag in Rigadpa
Stärke: Die amerikanische Regierung ignoriert inzwischen Warnungen und Drohungen aus Moskau. In der vergangenen Woche hatte die russische Führung nach Auskunft amerikanischer Regierungsvertreter von Washington verlangt, Kiew nicht mehr mit modernen Waffensystemen auszustatten. Sie drohte mit „unvorhersehbaren Folgen“. Die Drohung wurde in der amerikanischen Regierung als Eingeständnis aufgefasst, dass die Waffen die militärischen Fähigkeiten Russlands erheblich einschränken. Am Mittwoch folgte eine Machtdemonstration Moskaus: Wladimir Putin ließ eine neue ballistische Interkontinentalrakete testen.
So sorry: Der britische Premierminister Boris Johnson bei seiner Entschuldigungsrede vorm Unterhaus am DienstagAFP
3. Baerbock in Estland und Litauen
Während die Außenministerin dem Baltikum die Unterstützung Deutschlands zusichert, diskutiert die Ampelkoalition weiter über die Lieferung schwerer Waffen.
Zusicherung: Die Reaktion von NATO, EU und der internationalen Gemeinschaft auf den russischen Angriffskrieg ist auch Thema bei den Gesprächen, die Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) in Estland und Litauen führt. Bereits gestern hat sie den baltischen Republiken weitere militärische Unterstützung Deutschlands in Aussicht gestellt. „Wenn es mehr braucht, werden wir auch hier im Baltikum mehr tun“, sagte Baerbock in Riga. An der Ostflanke der Nato werde nicht nur die Sicherheit des Baltikums verteidigt, sondern die Sicherheit ganz Europas.
„Kein Tabu“: Auch im Baltikum wird die Außenministerin von der heimischen Diskussion um die Lieferung schwerer Waffen verfolgt. So kritisierte ihr Parteifreund Anton Hofreiter, Deutschland riskiere durch sein Zaudern, „dass weitere Länder überfallen werden und wir dann am Ende in einen erweiterten, de facto dritten Weltkrieg rutschen“. Baerbock selbst sagte, die Lieferung gepanzerter Fahrzeuge an die Ukraine sei zwar „kein Tabu, auch wenn es in der deutschen Debatte manchmal so klingt“. Kurzfristig könne die Bundeswehr jedoch kein weiteres Militärgerät zur Verfügung stellen. Ukrainischen Regierungskreisen zufolge hat Deutschland seit Kriegsbeginn unter anderem gut 2500 Luftabwehrraketen, 900 Panzerfäuste, 100 Maschinengewehre und etwa 100.000 Handgranaten geliefert.
Streit: Die Lieferung schwerer Waffen wird immer mehr zum Stresstest für die Koalition. Auch aus Reihen der FDP kommt Kritik an Scholz. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich sah sich veranlasst, den Kanzler in Schutz zu nehmen. Er empfinde „einzelne Bemerkungen und Auftritte aus den Koalitionsparteien“ in der Debatte um Waffenlieferungen als „bitter“, schrieb Mützenich in einem Brief an seine Fraktion. „Wir dürfen uns von Stimmen nicht beeindrucken lassen, die uns und der Öffentlichkeit weismachen wollen, Deutschland komme seiner Verantwortung nicht nach.“ Das Gegenteil sei der Fall. „Die Bundesregierung handelt entschlossen, umsichtig und überlegt.“
Hier möchte man nicht sein: Behelfskrankenhaus und Quarantäneeinrichtung im Nationalen Ausstellungs- und Kongresszentrum in Schanghai (Archivbild von Mitte April)dpa
4. Wird „Partygate“ noch einmal gefährlich für Boris Johnson?
Das britische Unterhaus will darüber abstimmen, ob die illegalen Lockdown-Partys in 10 Downing Street Gegenstand einer parlamentarischen Untersuchung werden sollen. Es geht vor allem um die Frage, ob Premierminister Johnson vor dem Parlament gelogen hat.
Lüge oder nicht? Die oppositionelle Labour Party hat den Antrag eingebracht, über den an diesem Donnerstag abgestimmt werden soll. Im Kern geht es darum, ob Boris Johnson dem Parlament wissentlich die Unwahrheit gesagt hat, als er meinte, eine Feier im Jahre 2020 während des strikten Corona-Lockdowns im Regierungssitz für eine dienstliche Veranstaltung gehalten zu haben. Von einem Regierungsmitglied, das im Parlament wissentlich lügt, wird in Großbritannien zwingend der Rücktritt erwartet. Doch Johnson bestreitet eisern, wissentlich die Unwahrheit gesagt zu haben.
Strafbefehle: Bislang steht die Mehrheit der Tories hinter Johnson, nur einzelne Abgeordnete haben sich von ihm losgesagt. Da die Konservativen über eine Mehrheit von 75 Sitzen im Unterhaus verfügen, droht Johnson vorerst wohl keine Gefahr. Manch einer sagt jedoch, man müsse neu nachdenken, sollte der Premierminister weitere Strafbescheide erhalten. Als unwahrscheinlich gilt das nicht, schließlich stehen zwölf Veranstaltungen im Fokus der Metropolitan Police. Etwa 50 Strafbefehle wurden bereits erlassen. Johnson erhielt einen Anfang April. Er bezahlte das Bußgeld – und kündigte an weiterzumachen.
Staatsmann: An der vor der Abstimmung anberaumten Debatte wird Johnson wohl nicht teilnehmen. Allem drohenden Ungemach zum Trotz reist er nach Indien. Bevor er am Freitag Ministerpräsident Narendra Modi trifft, wird er in dessen Heimatbundesstaat Gujarat über britische Investitionen sprechen.
Trendsetter? Das Covid-Impfzertifikat ist das bislang einzige, das die Deutschen digital vorliegen haben.dpa
5. Schanghai geht zunehmend rabiat gegen Corona-Patienten vor
Auch alte und gebrechliche Menschen werden in Quarantänezentren verfrachtet. Sie könnten damit den Preis für weitere Lockerungen in der 25-Millionen-Metropole zahlen.
Ungehorsam: In Schanghai mehren sich Berichte, nach denen alte und besonders gebrechliche Menschen in Quarantänezentren verfrachtet werden. Eine Ausnahmeregel, wonach sie Heimquarantäne beantragen können, wurde offenbar abgeschafft. Einige Menschen sollen mitten in der Nacht aus ihren Wohnungen gezerrt und bedrängt worden sein. Diese Fälle nähren in Schanghai die Wut der Eingeschlossenen, Rufe nach zivilem Ungehorsam werden lauter. Die Lokalregierung sah sich gar gezwungen, die Öffentlichkeit zur Kooperation zu ermahnen.
Lockerungen: Das rabiate Vorgehen der Behörden ist womöglich der Preis für die am Mittwoch von der Schanghaier Stadtverwaltung verkündeten Lockerungen. Demnach dürfen weitere vier Millionen Bewohner ihre Wohnungen verlassen, nachdem es in der vergangenen Woche ähnliche Lockerungen für knapp acht Millionen Schanghaier gegeben hatte. In vielen Fällen ist der erlaubte Bewegungsradius jedoch weiterhin stark eingeschränkt. Laut der Analysefirma Gavekal Dragonomics sind in 87 der 100 wirtschaftsstärksten Metropolen Chinas zumindest einzelne Wohngebiete im Lockdown. Dabei sind die gemeldeten Infektionszahlen im Vergleich zu anderen Ländern weiterhin niedrig.
Deutschland: Nachdem die Sieben-Tage-Inzidenz über Ostern gesunken war, stieg sie zuletzt wieder an – wie zu erwarten war. An diesem Donnerstag wurden 186.325 Neuinfektionen registriert, die Sieben-Tage-Inzidenz stieg auf 720,6. Wiederholt hatte das Robert-Koch-Institut darauf hingewiesen, dass es während der Feiertage zu einer Untererfassung der Neuinfektionen kommen könnte. An diesem Donnerstag stellt das RKI seinen Wochenbericht vor.
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6. Digitalisierung im Gesundheitswesen soll Standard werden
Künftig sollen EU-Bürger auf ihre gebündelten Patientendaten per Handy zugreifen können. Vor allem Deutschland hat Nachholbedarf.
Gesetzentwurf: Bis 2025 sollen alle Versicherten in der EU problemlos via Internet auf elektronische Rezepte, Laborergebnisse, Röntgenbilder, Entlassungsberichte und Impfnachweise zugreifen können. Sie sollen diese Daten Ärzten oder Apothekern grenzüberschreitend zugänglich machen können, in medizinischen Notfällen sollen Ärzte auch ohne Genehmigung darauf zugreifen können. Das geht aus einem Entwurf für ein EU-Gesetz für einen europäischen Gesundheitsdatenraum hervor, der der F.A.Z. vorliegt.
Deutschland: Mit dem Gesetz will die Europäische Kommission Nachzügler wie Deutschland in die Pflicht nehmen. Was die Digitalisierung des Gesundheitswesens angeht, ist die Bundesrepublik im europäischen Vergleich bestenfalls Mittelmaß. Nicht nur die nordeuropäischen Mitgliedstaaten Dänemark, Schweden und Finnland sowie der digitale Vorreiter Estland haben Deutschland abgehängt, sondern auch Österreich oder Spanien.
So geht es weiter: Die Kommission will das Gesetz für einen europäischen Gesundheitsdatenraum Anfang Mai offiziell vorstellen. Ihre Chancen, es bei den Mitgliedstaaten durchzusetzen, stehen gut. Auch das Europäische Parlament hat grundsätzliche Zustimmung signalisiert.
7. Ein Ladekabel für alles
Wer kennt es nicht? Ladekabel vergessen – und schon beginnt die Suche nach jemandem, der einem aus der Patsche helfen kann. Das soll nun ein Ende haben, zumindest in der EU.
USB-C-Ladeanschluss: Künftig sollen europäische Verbraucher mit einem „Allzweckkabel“ ihre Handys, Tablets, Spielekonsolen, Digitalkameras oder Kopfhörer laden können. Von 2024 an dürfen die Hersteller diese Geräte nur noch mit dem ovalen sogenannten USB-C-Ladeanschluss verkaufen. Dafür hat sich der Binnenmarktausschuss des Europaparlaments ausgesprochen.
Zitat: „Ein einziger Standard zum Aufladen von Smartphones, Laptops oder Kopfhörern spart Ressourcen, vermeidet Tausende Tonnen Elektroschrott und schont den Geldbeutel der Verbraucherinnen und Verbraucher“, sagte die Vorsitzende des Binnenmarktausschuss, Anna Cavazzini (Grüne).
Kein Verbot: Nicht durchsetzen konnten sich die Grünen mit ihrem Wunsch, den Verkauf neuer Elektrogeräte inklusive Ladekabel zu verbieten. Die Hersteller sollen dagegen verpflichtet werden, ihre Geräte ohne Ladekabel anzubieten. Das Europäische Parlament stellt sich damit weitgehend hinter einen Gesetzesvorschlag, den die Europäische Kommission im vergangenen September vorgelegt hat. Es muss sich nun noch mit dem Ministerrat auf eine gemeinsame Position einigen.
Frankreich und Großbritannien wollen im Falle eines Waffenstillstands Soldaten zum Schutz der Ukraine entsenden. Manche sagen: Das geht auch ohne Amerika.
Deutschland muss seine Passivität in Fragen der nuklearen Abschreckung überwinden. Damit die Strategie für den möglichen Angreifer glaubhaft wirkt, muss die eigene Bevölkerung überzeugt werden.