Ein Jahr Ljubljana-Manifest : Wir Lesesklaven
Im alten Athen, erzählt man sich auf der Frankfurter Buchmesse, wurde Aristoteles in Platons Akademie von den anderen Scholarchen ob seiner Angewohnheit verhöhnt, für sich selbst zu lesen, statt einem Sklaven zuzuhören, dessen Aufgabe im Vortrag von Niedergeschriebenem bestand. War er am Ende selbst auch nur ein solcher Sklave, fragten seine Mitschüler frech. Folgt man Luis González, der am Mittwochmittag auf der International Stage an diese Anekdote erinnert, konnte der junge Aristoteles den Spott gut ertragen: Seine Schriften zeugen vom Vorteil, anderer Leute Gedanken selbst zu lesen, in einem Tempo und einer Tiefe, die nicht vom mündlichen Vortrag anderer abhängt.
Tempo und Tiefe waren die Themen der Diskussionsrunde, zu der Leseexperten aus Spanien, Norwegen und Slowenien zusammengekommen waren, dem Gastland der Buchmesse im Vorjahr, das einen Großteil seines Programms dem Lesen gewidmet hatte. Genauer gesagt, dem Lesen auf seiner höchsten Entwicklungsstufe, das keinesfalls eine elitäre Angelegenheit sei, wie manche voreilig meinten, sondern Ziel allen Lesenlernens, weil hierbei das frisch Gelesene mit dem bisherigen Wissen abgeglichen wird, weil Positionen, Absichten und Quellen hinterfragt werden können, weil dabei beides kritisch infrage steht und umeinander bereichert werden kann: das Neue wie das Vertraute.
Grundlage der Diskussionen vor einem Jahr war das wenige Tage vor der Buchmesse veröffentlichte „Ljubljana-Manifest“ zum Lesen auf höchstem Niveau. In diesem Jahr gibt es Anlass zum Blick auf das, was aus diesem Manifest erwachsen ist. Luis González von der spanischen GSR-Stiftung für Buch- und Lesekultur stellte ein Fortbildungsprogramm vor, das dazu beitragen soll, dass jedes Kind an jeder Schule des Landes auf höchster Stufe lesen lernt. Kristenn Einarsson vom World Expression Forum in Norwegen schlug vor, die Mittel für die Bildungsaufgabe der Leseförderung kurzerhand aus dem Verteidigungsetat zu nehmen, immerhin sei, was hier durch die Ermöglichung eigenständigen Denkens verteidigt werde, nicht weniger als die Demokratie selbst.
Die Höhenflüge des Populismus überall in Europa geben ihm recht. Doch wer sich wirklich politisch dafür zuständig fühlt, stellte Miha Kovač, einer der Kuratoren des slowenischen Gastlandauftritts 2023 und einer der Verfasser des „Ljubljana-Manifests“, gleich eingangs fest: Zwei Drittel der Kulturminister aller EU-Staaten hätten das Manifest inzwischen unterzeichnet – hingegen lediglich ein bis zwei Bildungsminister. Hier ist noch ein Bekenntnis offen.