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„So viele Augenzeugenberichte über Auschwitz und den Holocaust es mittlerweile geben mag – niemand könnte behaupten, auch nur einer sei überflüssig“: So beginnt Ulrich Weinzierl vor bald dreißig Jahren – veröffentlicht am 30. März 1996 – seine Besprechung des „Romans eines Schicksallosen“ von Imre Kertész. Seit Kriegsende waren etwas mehr als fünfzig Jahre vergangen, der ungarische Autor war noch keine siebzig. Kertész war 14 Jahre alt, als er nach Ausschwitz kam, so alt wie György in seinem Roman. Der Junge überlebt den ersten Tag im Konzentrationslager nur, weil er dem Rat folgt, den ihm gleich nach der Ankunft ein Inhaftierter auf Jiddisch zugeflüstert hat: Er möge behaupten, bereits sechzehn Jahre alt zu sein.

Am Montag vor achtzig Jahren befreiten sowjetische Truppen Auschwitz-Birkenau, vor zwanzig Jahren wurde der 27. Januar zum internationalen Holocaustgedenktag erklärt. Wer heute den ersten Satz Weinzierls liest, muss dem Literaturkritiker zustimmen: Heute kann uns kaum ein Überlebender des Holocausts noch persönlich von seinen Erlebnissen berichten. Die Augenzeugenberichte – ob schriftlich oder in Ton und Bild – sind alles, was uns bleibt. Zusammen mit Werken von Menschen, die ihrerseits für ihre Arbeit auf die Augenzeugenberichte angewiesen sind. Und mit den Orten des Grauens, die heute noch besucht werden können.

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Auch Kertész ist nach Auschwitz zurückgekehrt, ein erstes Mal 1962. Er irrte, daran erinnert Hubert Spiegel in seinem Nachruf Ende März 2016, „wie ein Fremder über fremde Schauplätze und begreift plötzlich, ,was man gemeinhin als Vergänglichkeit bezeichnet und wie teuer mir das war, was mir durch sie verlorenzugehen drohte‘“: ein wesentlicher Impuls für ein Werk, das vierzig Jahre später mit dem Literaturnobelpreis gewürdigt werden sollte.

Dreizehn Jahre lang hat Imre Kertész am „Roman eines Schicksallosen“ gearbeitet, 1975 ist das Buch im ungarischen Original, fünfzehn Jahre später unter dem Titel „Mensch ohne Schicksal“ ein erstes Mal in deutscher Übersetzung erschienen. Ohne, so formuliert es Weinzierl, „allzu viel Beachtung zu finden“. Auch die F.A.Z. hat erst die Neuübersetzung für den Rowohlt Berlin Verlag 1996 besprochen. „Ginge es mit rechten Dingen zu, müsste der jetzigen Ausgabe in der neuen Übertragung von Christina Viragh jener Erfolg zuteil werden, den ein document humain von hohem ästhetischem Rang verdient“, schreibt Ulrich Weinzierl. Heute ist es – auch wenn Durs Grünbein in seinem wenige Tage nach Kertészs Tod veröffentlichten Versuch, einem jungen Menschen zu erklären, wer Imre Kertész war, empfiehlt, als Erstes „Ich – ein anderer“ und erst danach den „Roman eines Schicksallosen“ zu lesen – eines der herausragenden Werke für den Blick in den Abgrund, der mit dem 27. Januar verbunden ist.

Mit herzlichen Grüßen

Fridtjof Küchemann
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