Roman von Mieko Kanai :
Vom alltäglichen Wahnsinn einer Hausfrau

Von Nico Bleutge
Lesezeit: 4 Min.
Eine offene Wohnküche ist ein Muss für die Protagonistin von Mieko Kanais Roman „Leichter Schwindel“.
Eine Entdeckung aus Japan: Mieko Kanais Roman „Leichter Schwindel“ nahm vor fast dreißig Jahren das vorweg, was heute in der ganzen Welt gerne gelesen wird. Nun erscheint das Buch endlich auf Deutsch.
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Beim Frühstück liest Natsumi wie jeden Morgen die Werbeanzeigen in der Zeitung. „Verzichten Sie auf das, was Sie gerne tun würden, weil Sie Hausfrau sind oder Kinder haben?“, heißt es da. Und: „Haben Sie das Gefühl, dass Ihre Zeit aufgefressen wird, all Ihre Träume für die Zukunft?“ Bei der Überschrift „Einen Neuanfang wagen“ schaut sie auf. Gerade noch hat sie sich über einen „Chauviwitz“ ihres Mannes geärgert, jetzt fällt ihr der Bekanntenkreis ihrer Mutter ein, allesamt Hausfrauen, die aber etwas gewagt hätten. Und man liest ihre Gedanken in einem ­furiosen Satz, der sich in einer Mischung aus losen Einfällen, Erinnerungen und Sprachassoziationen über fast zwei Seiten schlängelt. Vom ironischen Kokettieren mit Lackschnitzarbeiten geht es zu einer Frau, die zu Hause ein Restaurant eröffnet hat, dann zu einer anderen, die Maklerin ist, um schließlich bei einer Nachbarin zu landen, die Selbstmord begangen hat.

Wer ist die Autorin, die solch kunstvoll verschlungene Sätze schreiben kann? Die eine Sprache verwendet, die den Lackschnittglanz schöner Formulierungen ebenso kennt wie das Gerede in der Nachbarschaft oder aufgeschnappte Slangsätze aus dem Zug? Und der es gelingt, den „alltäglichen Wahnsinn einer unterdrückten Hausfrau“ zu zeigen, wie sie es einmal nennt – und zugleich in jeder Äußerung ihrer Hauptfigur Natsumi wie in einem Kippbild die gesellschaft­lichen Umstände aufscheinen zu lassen?

Mieko Kanai, 1947 in Takasaki nordwestlich von Tokio geboren, hat mehr als dreißig Bücher geschrieben, Gedichtsammlungen genauso wie Erzählbände und Romane. In ihren Essays, die in Japan regelmäßig in Zeitungen und Magazinen veröffentlicht werden, reflektiert sie die dortige Gesellschaft. Sie hat eine Art Überschreibung von „Alice im Wunderland“ vorgelegt, die sie vor allem in den USA bekannt gemacht hat. Und ihr Roman „Leichter Schwindel“, um den es hier geht und der im Original 1997 erschienen ist, galt in Japan lange Zeit als Kultbuch.

Wohnen wie in Hochglanzzeitschriften

Die Eckpunkte seiner vermeintlichen Handlung lassen sich schnell zusammenfassen: Natsumi, Ende dreißig, lebt mit ihrem Mann und zwei Söhnen in einer geräumigen Neubauwohnung im Randgebiet von Tokio. Ihr Mann arbeitet in einem Labor, sie hat ihren Job in der Verwaltung einer Kosmetikschule mit der Geburt des ersten Kindes aufgegeben. Eine Mittelstandsfamilie, für die Werbebilder und Warenfetischismus eine sehr große Rolle spielen. Die Wohnung mit zwei Balkonen und einer Wohnküche hat Natsumi nicht aus­gewählt, weil sie leidenschaftlich gern kochen würde, sondern weil die Einrichtung den Interieurs in den Hochglanzzeitschriften ähnelt, die sie fast besessen liest.

Das Entscheidende an diesem Roman aber sind nicht realistische Szenerien oder erzählerische Linearität, sondern es ist die Bewusstseinsbewegung der Hauptfigur, verwandelt in die Sprachbewegung der Sätze. Der nüchterne Begriff „personal erzählt“ trifft das nur äußerlich. Kanai listet etwa immer wieder für die Figuren wichtige Gegenstände samt deren Fachwörtern auf, von der Videokamera bis zum „Super Gym DX“, und lässt so die dahinterstehende soziale Welt aufblitzen. Erst recht aber zeigt sie in ihren stets mehrseitigen Sätzen das Denken, Wahrnehmen und Sprechen von Natsumi in all seiner assoziativen Verflechtung und schafft es in einer Art Überblendungstechnik, Dialoge, die Gerüchteküche aus der Umgebung und Erinnerungen anderer Figuren einzubauen.

Virginia Woolf und Gertrude Stein winken im Hintergrund, Natsumi selbst kauft sich am Ende des Romans Bücher von Edna O’Brien und Iris Murdoch. Doch Kanai schreibt nicht nur Traditionslinien fort, sondern ist ihrerseits Vorbild für eine jüngere Autorinnengeneration, insbesondere in Japan. International erfolgreiche Bücher der letzten Jahre wie Sayaka Muratas „Die Ladenhüterin“, in denen ebenfalls die Monotonie des Alltags, die Welt von Supermärkten und die Suche nach Sinn im eigenen Ich aufgefaltet werden, wären ohne Kanais Roman kaum denkbar.

Porträt einer gesellschaftlichen Konstellation

Wobei niemand das Raffinement von Kanai erreicht, in kaum merkliche Wahrnehmungen und Gefühlsreste ganze Weltsichten einzulagern, hauchfein unter der Oberfläche dessen, was den Figuren bewusst wird. Allein an dem Ekel, den Na­tsumi bei der Vorstellung empfindet, nach ihrem Mann in die Badewanne zu steigen, „mit all dem Schmutz, der mit dem Schweiß aus seinen Poren gesickert war“, lassen sich der Zustand ihrer Ehe und der Grad ihrer Unzufriedenheit ablesen – und eine tief sitzende Angst vor Auflösung.

„Leichter Schwindel“ enthält aber nicht nur eine Persönlichkeitsstudie, sondern untersucht gewissermaßen auch eine bestimmte gesellschaftliche Situation. Kanai schreibt in ihrem Nachwort, der Roman gründe auf Texten, die sie 1968 in einer Familienzeitschrift veröffentlichte. Während der Arbeit an dem Buch Anfang und Mitte der Neunzigerjahre habe sie bis auf den Namen der Hauptfigur und den Schauplatz fast alles neu geschrieben. An vielen Details, von den aufgelisteten Sortimenten von Supermärkten bis zu den genannten Modenamen, werden die Neunziger erfahrbar. Und über die Erinnerungsstränge und die eingeschmolzenen Suaden von Natsumis Mutter bekommt man auch Fragmente aus der Welt der Sechziger mit, dazu gibt es kurze Rückblenden in die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg.

Was so entsteht, ist ein soziales Por­trät, das besonders in der Art des Denkens, Sehens und Redens deutlich wird. In den verschlungenen Assoziationen, im Lästern und Nörgeln oder in Gefühlen, die man abwehrt, zeigen sich auch kollektive Verdrängungen und Verschattungen. Vor ­allem sind nach wie vor starke patriarchale Strukturen wirksam. So ist der titel­gebende „leichte Schwindel“, den Natsumi beim Starren in den Wasserstrahl der Küchenspüle immer wieder verspürt, auch der Schwindel einer rundum ver­unsicherten Gesellschaft.

Beim Lesen merkt man bis in die flirrende Sprache hinein, wie gegenwärtig das Buch ist. Ursula Gräfe hat Kanais lange Sätze, die Wiederholungen und Listen, das Ineinanderschneiden der Perspektiven und die wahrnehmungsgenauen Details so perfekt ins Deutsche verwandelt, dass einem beim Blättern in einem emphatischen Sinn selbst schwindlig werden kann. Kanais grandioseste Idee aber ist es, zwei Artikel über eine Fotografieausstellung in den Text einzuschieben, die Na­tsumi von einer Freundin erhält. Diese Artikel sind in einem völlig anderen Duktus gehalten und offenbaren zunächst kaum Bezüge zu Natsumis Welt. Doch die dort einmal erwähnte „Leere“ der Porträtierten erzählt indirekt etwas über die ­Figuren des Romans. „Leichtigkeit“ und „lebendige Neugier“ charakterisieren nicht nur das Werk des Fotografen, sondern auch Kanais genauen literarischen Blick.

Mieko Kanai:  „Leichter Schwindel“.  Roman.
Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Suhrkamp Verlag, Berlin 2025. 174 S., geb., 23,–  €.
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