Thomas Pigors Faust-Roman :
Komponieren ist Silber, Drucken ist Gold

Lesezeit: 8 Min.
Thomas Pigor (rechts) will den Boden der bürgerlichen Realität nicht unter den Versfüßen ver­lieren. Benedikt Eichhorn am Flügel erdet ihn.
Ein Wortsetzer schöpft aus dem Alchimiekasten: Im Faust-Roman„La Groete“ von Thomas Pigor kommt die Kleinkunst ganz groß heraus. Der Autor muss die Herstellung des Buches mit fanatischer Genauigkeit überwacht haben.
Merken

Im Kabarettduo „Pigor singt, Benedikt Eichhorn muss begleiten“ ist Thomas Pigor der tonangebende Teil – jedenfalls soweit wir die Künstler bei ihren Auftritten erleben. Mithin komplett: Denn jenseits ihrer Bühnenroutine gibt es nichts zu erleben und erst recht nichts auszudeuten; als unzertrennlich zweiköpfiger Verbund existieren sie nur auf dem Theater. Obwohl der Pianist das Gerät und die Ausbildung hat, um vor jeder Nummer den ersten Ton anzuschlagen und damit das Fundament für alles Folgende zu ­legen, kultiviert der Sänger die diktatorische Haltung eines Mannes, der sich ­keine Vor­gaben machen lässt und beim Angeben schon gar keine Nachhilfe benötigt hat.

Jetzt hat Thomas Pigor einen Roman geschrieben, wobei die Zeitangabe dehnbar und fast bis auf den Punkt der Fermate steigerungsfähig ist: Jetzt hat er einen Roman veröffentlicht, der laut Danksagung „über einen Zeitraum von zwanzig Jahren geschrieben“ wurde. Im vierzehnten der 21 Kapitel mit dem Titel „Premierenvorbereitungen“ erzählt der Autor von der Entstehung eines seiner größten Erfolge, des Songs „Heidegger“ aus dem 1999 auf CD gebannten dritten Programm von Pigor und Eichhorn.

Thomas Pigor: „La Groete – Sag nicht Kleinkunst“. Roman.
Illustrationen von Anna Mateur, Gestaltung von Burkhard Neie.
Verlag Bärmeier & Nikel, Berlin 2023. 272 S., Abb., br., 30,– €.
Thomas Pigor: „La Groete – Sag nicht Kleinkunst“. Roman. Illustrationen von Anna Mateur, Gestaltung von Burkhard Neie. Verlag Bärmeier & Nikel, Berlin 2023. 272 S., Abb., br., 30,– €.Bärmeier & Nikel

Der Song besteht in der Hauptsache aus der wörtlichen Wiedergabe der Antwort auf die Frage „Was ist Sein?“ aus „Sein und Zeit“. Im Roman werden wir Zeuge, wie der Dichter, der in diesem Prosawerk unter dem Pseudonym La Groete auftritt, gleich beim ersten Blättern in Martin Heideggers Buch in ein Nachdenken über dessen Sprache verfällt. Der ­poetische Reiz dieses Zufallsfunds, insbesondere der durch ständige Wiederholung betonte Gleichklang des als Possessivpronomen und als Verb verwendbaren Wörtchens „sein“, wird mit einer begrifflichen Präzision bestimmt, die Germani­s­ten schwerlich überbieten werden.

Pigor-Fans können beim Lesen mitsingen

Lautes Lesen der Heidegger-Passage, die Pigor-Fans mitsingen könnten, löst bei La Groete eine bildungsbürgerliche Assoziation aus. Ihm kommt ein Zitat eines Klassikers in den Sinn: „Es war die Musik, die in diesen Versen in so leichtem Schlummer liegt, dass die leiseste Berührung von berufener Hand genügte, sie zu erwecken.“ Die Stelle stammt aus dem „Doktor Faustus“ von Thomas Mann; der Erzähler von Manns Roman, der Gymnasiallehrer Serenus Zeitblom, erklärt mit diesen Worten, wie er auf die Idee kam, seinem Freund Adrian Leverkühn die Gedichte von Clemens Brentano zu schenken, von denen der Komponist dann dreizehn auswählte, um aus ­ihnen sein Erstlingswerk zu erschaffen. Zeitbloms Ton hat im Zusammenhang etwas Apologetisches: Er rechtfertigt sich für eine nach seinen humanistischen Maßstäben pro­blematische Gabe – das Romantische von Brentanos Sprachspielerei ist ihm nicht geheuer, der den Boden der bürgerlichen Realität nicht unter den Versfüßen ver­lieren möchte.

Thomas Pigors Kleinkünstlerroman ist die neueste Modernisierung der Faust­sage im Dienst der Selbstaufklärung des Kulturbetriebs – beziehungsweise zur Abwechslung einmal eine Antiquisierung. Pigors Doppelgänger würde sich nie wie Goethes Doktor vor sich selbst verpflichten, nicht mehr in Worten zu kramen. Worte sind sein Stoff im mehr­fachen Schriftsinn von Thema, Droge und Material für die schrillsten Kostüme; der Teufel bekommt von ihm seine Kramerseele. Als Alchimist alter Schule brütet er über Büchern, die La-Groete-Sage ist über weite Strecken ein Pastiche.

Der ganze fleißige Zauber – für diesen Roman wurde das schöne deutsche Wort Feinarbeit erfunden, nicht für Kreationen aus Untertürkheim oder Baiersbronn – dient einer gattungspolitischen Absicht. Die Verachtung, die Avantgardepopbands der Kleinkunst stumpfsinnig entgegengebrüllt haben, ist hier als Stachel verinnerlicht, bezogen allerdings ausschließlich auf die Äußerlichkeit der verniedlichenden Genrebezeichnung. Kleinkunst, das ist ein schlechter Witz, verunglücktes Guerilla-Marketing, Koketterie, die nicht honoriert wird. La Groete will so groß herauskommen, wie es ihm sein Name, angeblich Geburts- und kein Künstlername, verheißt. Der echte Kabarettist macht im hochgewölbten gotischen Zimmer die beste Figur, kommt mit seinem Putzwedel und seiner Sprühpistole in die letzten und höchsten Winkel.

Dieser Roman kennt seinen Thomas Mann

Und hat nicht jeder sogenannte Kleinkünstler einen Teufel für alles, der ihm alles abnimmt und alles verspricht? Ohne Agenten wird man in dem Metier nicht alt. La Groete hat sein Heil einer Agentin verpfändet – sie heißt Esmeralda, wie Leverkühns Muse, und sie hat ihm das Päckchen mit „Sein und Zeit“ geschickt.

Gegenüber der Vorlage von Thomas Mann hat Thomas Pigor eine Verschiebung vorgenommen: Der Teufelin in die orthopädischen Schuhe schiebt er die Schenkung der ansteckenden Lektüre, die im „Doktor Faustus“ eine Geste von Leverkühns Freund und interesselosem Verehrer Zeitblom ist. Soll man darüber spekulieren, ob im wahren Künstlerleben der zeitweilige Studienreferendar Benedikt Eichhorn den Heidegger-Longseller, von dem nur Volumen­ eins erschienen ist, ins Tourneegepäck des Diplomchemikers ­Pigor steckte? Und hat Thomas Pigor ­deshalb, zur Vollendung der Tarnung, ­sein Chemiestudium im Roman dem Eichhorn-Double Jakob Rhoenich auf­gebrummt? Das würde nur zu gut zu ihm passen, der im Roman die Arbeitsbeziehungsdynamik von Dichter und Komponist als existenzialistische Überhöhung des Gefälles der beiden komischen Bühnentypen des Großsprechers und des Klimperknechts ausgestaltet. Jakob steht für alles das, was im faustischen Modell der ästhetischen Existenz das Projekt gefährdet: die bürgerliche Existenzgründung mit ihren fatalen Ver­strickungen von Ehealltag und Wochenendhaus.

Während der Raum hinter der Bühne, wo die Machtverhältnisse womöglich umgekehrt sind, für die Zuschauer tabu ist, können die Leser die intertextuelle Hinterwelt des Romans in Augenschein nehmen. Gegenüber Thomas Manns Phantasiehaushaltsökonomie sind in La Groetes Illusionsarbeitswelt die Rollen vertauscht: Der Musiker soll der Biedermann sein und der Wortklauber das Genie, so will es Thomas Pigors Roman, das Leben des deutschen Wortsetzers Dieter La Groete, erzählt von seinem besten Freunde. Der Ich-Erzähler, Ich-Arrangeur und Ich-Kulissenschieber geht fast so weit, dem Notenlieferanten jeden Eigenanteil an den Gemeinschaftswerken zu bestreiten. Hingegen entspricht es der heiteren Gemütsart Serenus Zeitbloms, dass er eines Miturheberrechts an den Stücken von Leverkühns Brentano-Zyklus entsagt und dabei indes wie ein stillvergnügter Teilhaber am schöpferischen Gesamtprozess klingt: „Selbstverständlich war die Auswahl der 13 Gesänge ganz seine Sache; ich nahm nicht den geringsten Einfluss darauf. Aber ich darf sagen, dass sie fast Stück für Stück meinen Wünschen, meinen Erwartungen entsprach.“

Erst die Gestaltung macht das Buch zum wahren Kunstwerk

Der Meister und sein erster Fan kommen überein in ihren Erwartungen an die gediegene Ausstattung von Druckwerken. Zeitblom ist stolz darauf, dem Freund eine „hübsche Original-Ausgabe“ der Brentano-Gedichte verehrt zu haben, und Leverkühn machte exakte Angaben nicht nur für die Aufführung seines op. 1, sondern auch für die Drucklegung: „Er überwachte die Herstellung des Klavierauszugs sehr genau, verlangte ein raues, unsatiniertes Papier, Quart-Format, einen breiten Rand, ein nicht zu enges Beieinander der Noten.“ Der Verlag Bärmeier & Nikel hat „La Groete – Sag nicht Kleinkunst!“ auf glattem, satt glänzendem Papier gedruckt, und Thomas Pigor muss die Herstellung des Bandes mit fanatischer Genauigkeit überwacht haben. Der Wille zur Aufwertung der kleingeredeten Sprachgesangskunst findet Ausdruck in einem Buch, das es ausschließlich in einer Luxus- und Vorzugsausgabe gibt, die freilich zu dem bei Romanen buchhandelsüblichen Preis abgegeben wird.

Der Wortsetzer und der Tonsetzer, so sehen wir, wäre nichts ohne den Setzer. Sein Name ist Burkhard Neie. Er bedient sich einer Vielzahl von Schriften, um in dokumentarischem Gestus die Vielfalt der Standpunkte des Romans auf den Helden abzubilden, der von Berufs wegen lügt wie gedruckt und sich auch außerhalb der Arbeitszeit stets professionell verhält, das heißt, wie es aussieht, wohl auch liebt oder lacht wie gedruckt. Jede Seite – darf man das sagen? – ergibt ein kleines Kunstwerk, weil auch Höhe und Breite der Spalten variieren und überhaupt alles das nach rhythmischen Prinzipien der geordneten Abwechslung behandelt wird, was in allen anderen Romanen dazu dient, den Eindruck eines gleichflächigen Textflusses zu erzeugen.

Eingelegt werden liebevoll fingierte Faksimiles von Papierkram, wie er in einem Großkünstlerdasein anfällt, Ringbuchblättern, Notizzetteln und Drehbuchseiten. Pittoreske Requisiten vergangener Schaugeschäftszeiten wie Tonbandgerät und Zigarettenschachtel wer­den von Piktogrammen vergegenwärtigt, deren klare Linienführung geradewegs auf Otto Neurath verweist. Die Anmutung eines Albums lässt wegen der Strenge im Detail den Primat des Schriftbilds erst recht hervortreten. Oft ist von umständlicher Kommunikation in der Ära vor dem Aufgehen der Öffentlichkeit im Netz die Rede, von Gelegenheiten romantischer Missverständnisse in einer noch nicht total synchronisierten Welt. Eine kulturpessimistische Auslegung des Zeitkontrastes wird erschwert durch eine Buchproduktion, die nur dank digitaler Layouttechnik möglich ist. Das Resultat ist ein Weltwunderding der Typographie, deren Überraschungseffekte ineinandergreifen – wäre es eine Spieluhr, hätte Horst Bredekamp dieses Prachtobjekt als national wertvolles Kulturgut für das Humboldt-Forum beschlagnahmt.

Die Wahrheit des grafischen Romans

Im Gegensatz zu Adrian Leverkühns auratisierender Druckraumordnung, die den Rezipienten auf Abstand hält, hat Thomas Pigor die Ränder der Buchseiten nicht leer gelassen, sondern als Raum für Notizen genutzt, für Kritzeleien in der Handschrift La Groetes und vor allem für Fußnoten, die das von den Ewigkeitswerten Lust, Neid und Ehrgeiz regierte Faust-Drama mit der Sittengeschichte Berlins im letzten Jahrfünft des zwanzigsten Jahrhunderts verknoten. Der Begriff des grafischen Romans bekommt hier eine neue handfeste Wahrheit, weil der Romantext Wort für Wort in grafische Mittel aus dem Werkzeugkasten der schwarzen Kunst umgesetzt wird. Klassische Illustrationen kommen hinzu, Schmuckbilder von Anna Mateur für die Titelseiten der Kapitel.

Pigor und Eichhorn veranstalten zwar auch Lesungen mit Musikbegleitung aus dem Buch, aber allein durch Hören kann man es nicht ganz aufnehmen. Gesehen haben muss man die Akrosticha, die Reihen durch Großschreibung und Rotschreibung hervorgehobener Anfangsbuchstaben, welche die Namen der ab­gekupferten Autoren der Weltliteratur einweben. So wird der Schöpfer des Dichterwortes von der durch kundige Berührung zu stimulierenden Versmusik identifiziert als „der Treffgenaue, Heraus­ragende, Offenbar Musikalische, Aner­kann­ter­maßen Singuläre, Meisterliche Au­tor N.N., dessen Name La Groete nicht einfallen wollte, so sehr er sich auch anstrengte“. Dieses ­Verfahren entspricht der Zwölftonkabbalistik Leverkühns, der zu Ehren der Hetäre Esmeralda, der er seine Erweckung zuschrieb, in seine Partituren die Tonfolge h-e-a-e-es einbaut, nur dass die Kombinatorik, die in den Tondichtungen als ­Verschlüsselung fungiert, im grafischen Roman eine Hand­reichung zur Enträtselung ist.

Im Vollrausch lauschender Lektüre geht La Groete auf, dass Heidegger in „Sein und Zeit“ „ein uraltes Ideal verwirklicht hatte: die perfekte Einheit von Form und Inhalt“. Thomas Pigor zeigt mit seinem Roman, dass sich dieses Ideal jedenfalls auch bei Ausrichtung an auf­geklärten Maßgaben realisieren lässt, Durchschaubarkeit, Übersicht, Ernüchterung. Der Kunst des Sprachgesangs, die seine Profession ist, hat er ein Monument mit den Mitteln einer ganz anderen Kunst gesetzt, die ihrer ganz eigenen Logik gehorcht, sodass das Denkmal nicht Abbild sein kann, sondern nur Sinnbild.

Wie zum Trost für Jakob Rhoenich oder Benedikt Eichhorn zieht sich aber auch durch diese tonlose Welt eine verborgene Musik: Der Leser schnappt ihr Echo auf, wenn er dank virtuoser Arbeit berufener Hände zu sehen bekommt, was es heißen soll, dass Lettern beweglich sein können.

Thomas Pigor: „La Groete – Sag nicht Kleinkunst“. Roman.
Illustrationen von Anna Mateur, Gestaltung von Burkhard Neie.
Verlag Bärmeier & Nikel, Berlin 2023. 272 S., Abb., br., 30,– €.
  翻译: