All die verpaßten Chancen
Was für ein Buch! Es gab erst Fahnen, also lose Blätter davon. Man konnte es nicht aus den Händen legen, aber der Stapel war auch zu schwer, um ihn dauernd zu halten. Also aufteilen. Den Part über Willy Brandt hierhin, den über die Vertreibung auf das Fensterbrett. Über die Berliner Zeit und die Gründung des Wissenschaftskollegs lesen, dabei schon einige Seiten weiter schielen: Was sagt er über Lafontaine? Was über den Zustand der Hochschulen? Was über das "Zentrum für Vertreibung"? So was geht nicht lange gut, schnell rutschen die Stapel ineinander, flattern umher, der Boden ist von Blättern bedeckt, auf manchen erkennt man den maliziös lächelnden jungen Peter Glotz mit dieser komischen, riesigen Brille. Er hätte dieses Din-A4-Chaos auf der Couch und im ganzen Zimmer, zu dem jetzt noch etliche Blätter mit Notizen kamen, nur schwer ertragen. Aber das Buch hielt mich die halbe Nacht wach, am Morgen schrieb ich ihm eine begeisterte E-Mail: "Das Buch hat mich sehr berührt, all diese falsch gestellten Weichen in der SPD, die knappe, klare Analyse, die Personenschilderungen, distanziert und dabei so intim, der gnadenlos trockene Humor . . . Ich freue mich schon auf unser Treffen." Post für einen Toten. Da lebte Peter Glotz schon seit einigen Stunden nicht mehr. Bald darauf rief der Verlag an: Das mit dem Interviewwunsch habe sich "in eine andere Richtung entwickelt".