Marcel Reich-Ranicki zum 100. : Der Redakteur für Literatur

Inspirierend, motivierend, voll Witz und Humor und empathisch: Reminiszenzen, Marcel Reich-Ranicki betreffend.
Zum hundertsten Geburtstag des großen Robert Musil veröffentlichte Marcel Reich-Ranicki am 6. November 1980 bloß eine kleine Glosse. Sie kam einem postumen Verriss gleich. Musils Hauptwerk, das Fragment gebliebene Romanuniversum „Der Mann ohne Eigenschaften“, umfasse zwar 2172 Seiten, sei aber gerade deshalb ein „ungenießbares Buch“. Also müsse ein „Reader’s Digest“ von „vierhundert bis höchstens sechshundert Seiten“ her. Nur so ließe sich der Roman retten. Aufschrei und Entsetzen in der Literaturszene. Ihn amüsierte das: Provokation geglückt. Er telefonierte, telegraphierte, diktierte Briefe an Mitarbeiter und präsentierte einen guten Monat später auf zwei vollen Seiten der Wochenendbeilage „Bilder und Zeiten“ neun substantielle Beiträge zu Musil und dem Roman. Wer hatte je mehr Aufmerksamkeit für den „Mann ohne Eigenschaften“ geweckt?