Cancel Culture : Händels Oratorium ist unzumutbar
Schweren Herzens behauptet der Opernverein der Universität Cambridge entschieden zu haben, die Aufführung von Händels Oratorium „Saul“ wegen „der eskalierenden humanitären Krise in Gaza und Israel“ abzusagen. Der Direktor wies auf die „frappierende Synchronizität“ des Werkes mit der gegenwärtigen Situation im Nahen Osten hin. Es „leben Menschen in unseren Colleges und Haushalten, die beim Anblick der sich entfaltenden Situation mit unvorstellbaren Schwierigkeiten konfrontiert werden“. Die Proben hätten vor den jüngsten Ereignissen in Gaza begonnen. Mit wachsendem Bewusstsein des vollen Ausmaßes der Situation sei den Beteiligten klar geworden, dass sie im Hinblick auf die Parallelen zwischen dem Oratorium und dem jetzigen Konflikt nicht weitermachen können.
Händels Oratorium um den ersten israelitischen König (nach dem Alten Testament) fand 1739 auch deswegen Resonanz, weil sich die Briten damals mit der israelitischen Vorstellung identifizierten, das auserwählte Volk zu sein. Um diesen Effekt zu steigern, setzte Händel Instrumente ein, mit denen er den Klang alter hebräischer Musik zu beschwören suchte. So sollten Posaunen für das Schofarhorn einstehen. Zudem lieh er sich beim Tower of London eine große militärische Kesseltrommel aus, die 1722 beim Staatsbegräbnis des Herzogs von Marlborough, des Helden der Schlacht von Höchstadt, erklungen sein soll.
Aus der Affinität Britanniens unter seiner neuen hannoverschen Herrschaft zu den Israeliten und plumpen Vergleichen zwischen den historisch nicht belegten biblischen Kriegen Jahrtausende vor Christus und der jetzigen Krise selbst zensierend zu schließen, das Oratorium sei aus Rücksicht für die Empfindsamkeiten der Betroffenen gegenwärtig unaufführbar, ist noch kindischer als das Verbot russischer Musik aus Solidarität zur Ukraine. Gewiss, das Oratorium beginnt mit der Feier des Sieges Davids über die Philister, die manchen als die Ahnen der Palästinenser gelten, obwohl der Mittelmeerhistoriker David Abulafia darauf hinweist, dass die Philister eher mykenische Griechen gewesen seien.
Im Kern des Werkes stehen jedoch die persönlichen Dramen des von Eifersucht in den Wahn getriebenen Saul und seiner durch die Liebe zu David in ihrer Loyalität zerrissenen Kinder Jonathan und Michal. Michal fleht David an, ihren Vater mit dem sanften Klang seines Harfenspiels zu besänftigen. Sie glaubt an die heilende Macht der Musik. Statt der selbstgerechten Cancel-Kultur Vorschub zu leisten, hätte Cambridge dieser Botschaft Gehör verschaffen können, auch wenn die Hoffnung sich im Oratorium als vergeblich erweist.