Hermann Peter Piwitt zum 90. : Ein Werk voller Gedanken
Als das Internet neulich im Vorlauf der nordamerikanischen Tiktok-Schwierigkeiten von einem Artikel heimgesucht wurde, dessen Überschrift sich sorgte: „Publishers and Authors Wonder: Can Anything Replace BookTok?“ (auf Deutsch etwa: „Verlegerei und Autorschaft in Sorge – was kann die Buchfilmchen auf Tiktok ersetzen?“), konnte sich eine Autorin in den sozialen Medien die sarkastische Bemerkung nicht verkneifen: „Na, keine Ahnung, vielleicht sowas wie Werbung von Verlagen?“ Der bittere Scherz kränkt vermutlich viele, die andauernd fleißig und engagiert Texte verlegen, vermarkten oder anderweitig fördern – sie haben damit übrigens sehr legitimerweise oft so viel zu tun, dass ihnen nicht mal mehr die Zeit zur Lektüre dessen bleibt, was sie da ermöglichen, beschützen und retten. Muss man sie dafür denn auch noch beschämen?
„Nothelfer“ Gremliza
Hermann L. Gremliza, verstorbener Herausgeber der Zeitschrift „Konkret“, die vielerlei deutsche Literatur ermöglicht, beschützt und gerettet hat (von Peter Weiss bis Arno Schmidt, Brigitte Kronauer bis Peter Hacks), hat den Vorwurf selektiver Lesefaulheit nie gefürchtet, sondern bekannte im April 1979 selbst, er könne leider keine Wälzer, sondern „nur Gedanken lesen, kurze Stücke mit Anfang und Ende, am besten Sätze“, und da mache ihm Gegenwartsbelletristik wenig Freude: „Wenn drei Seiten lang kein Satz steht, geb’ ich auf.“ Der ungewöhnliche Anlass dieser Bekanntmachung war eine Literaturkritik Gremlizas, in der sie stand, nämlich eine Rezension des Romans „Die Gärten im März“ von Hermann Peter Piwitt, damals teils falsch verstanden als Schlüsselroman. „Dem Verlag“, so berichtete Gremliza, „war’s nicht schlüsselig genug.“ Gremliza aber lobte das Buch, weil es „voll von Sätzen“ sei, „Gedanken“ also, „Treffer“, und belegte das mit Zitaten (er war die Art Literaturkritiker, die so gern und gut belegt, wie sie argumentiert).
Piwitt, der heute neunzig Jahre alt wird, zählte den Kritiker nicht nur wegen dieser mit Stil und Haltung erwiesenen Freundlichkeit noch am Ende seines achten Lebensjahrzehnts zu den großen „Nothelfern“ seines Lebens. Er hat sich diese Förderung eine Aufforderung sein lassen, das hohe Niveau von „Die Gärten im März“ zu halten, und schrieb so weiterhin Sätze, Gedanken, Treffer – 2017 etwa erschien im Band „Drei Freunde“ die Feststellung übers Altern: „Mein Aussehen muss so ungeheuerlich geworden sein, dass die Mädchen schon wieder guckten.“ Es spricht kaum gegen Tiktok, dass dieses Format das schaurige Vergnügen solcher Ideen noch nicht kennt. Gebt der Sache nur Zeit.