Brief aus Istanbul :
Die mobile Guillotine saust

Von Bülent Mumay
Lesezeit: 6 Min.
Auf die Opposition im Land setzt er einen Oberstaatsanwalt an: der türkische Präsident Erdogan.
Weil er die Opposition politisch nicht schlagen kann, setzt der türkische Präsident Erdoğan auf Unterdrückung durch die Justiz. Der ihm dienende Oberstaatsanwalt ist gnadenlos.
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In den letzten Jahren hat Staatspräsident Erdoğan bei gewonnenen Wahlen immer weniger Stimmen erhalten, bei den Kommunalwahlen 2024 rutschte seine Partei erstmals auf Platz zwei. 2028 muss er sich aus der Politik verabschieden. Laut Gesetz darf er nicht erneut kandidieren. Selbst falls er das doch tun sollte, signalisieren ak­tuelle Umfragen ihm, lieber nicht noch einmal anzutreten. In einer Umfrage vor zwei Wochen lag der Kandidat der Opposition, dessen Name noch nicht einmal feststeht, mindestens zehn Prozent vor Erdoğan.

Ich hatte gesagt, laut Gesetz dürfe Erdoğan nicht erneut kandidieren. Es gibt zwei Möglichkeiten, das zu ändern. Er könnte entweder das Land in vorgezo­gene Neuwahlen führen oder den Paragraphen der Verfassung ändern, der die Amtszeit regelt. Für beide Optionen wäre die Zustimmung der Opposition nötig. Diese handelt aufgrund der spalte­rischen Regierungspolitik seit geraumer Zeit als Block. Um bis ans Lebensende Präsident zu bleiben und zu verhindern, dass die Opposition einen gemeinsamen Kandidaten gegen ihn aufstellt, versucht Erdoğan jetzt, den Block zu zerschlagen.

Ermittlungen und finanzieller Druck

Vorrangiges Ziel dabei ist die aus den letzten Kommunalwahlen als Gewinnerin hervorgegangene CHP. Sie stellt im oppositionellen Block den größten Partner dar. Erdoğan bemüht sich, sie durch repressive Maßnahmen auszuschalten. Ermittlungsverfahren und finanzieller Druck gegen von ihr regierte Kommunen sollen die Oppositionsführerin in die Defensive drängen und lahmlegen. Seit einiger Zeit verhandelt das Palast­regime zudem mit der PKK, um auch die gemeinsam mit der CHP agierenden Kurden aus dem oppositionellen Block herauszulösen. Wo er selbst nicht gewinnen kann, zielt Erdoğan also darauf ab, die anderen verlieren zu machen.

Bülent Mumay
Bülent Mumayprivat

Das durch den Regimewechsel in Syrien in Ankara ausgelöste Selbstbewusstsein und die Wahl des unkontrollierbaren Cowboys Trump zum US-Präsidenten haben Erdoğan ermutigt, au­toritäre Maßnahmen zu ergreifen. In ei­nem Brief im November hatte ich bereits die „mobile Guillotine“ vorgestellt. So wird der Oberstaatsanwalt Akın Gürlek von der Opposition genannt, weil er gnadenlose Urteile gegen Widersacher Erdoğans verhängt und eingesetzt wird, wo die Regierung ihn gerade braucht. Vor einigen Monaten löste es Besorgnis aus, dass er erneut zum Oberstaatsanwalt von Istanbul ernannt worden war. Wie berechtigt die Sorge war, haben die letzten Wochen gezeigt, denn im ersten Monat des neuen Jahres hat Gürlek noch einen Zahn zugelegt.

In Istanbul wurde der mit Rekordergebnis ins Amt gewählte CHP-Bür­germeister des Bezirks Beşiktaş am Morgen des 13. Januar festgenommen. Ihm wird vorgeworfen, einem Unternehmer, der angeblich eine kriminelle Vereinigung gegründet habe, den Zuschlag für eine Ausschreibung erteilt zu haben. Es stellte sich heraus, dass derselbe Unternehmer auch Ausschreibungen von AKP-regierten Kommunen, gar vom Obersten Gerichtshof, von Turkish Airlines und vom Parlament gewonnen hatte. Bei denen klopfte niemand an. Die CHP reagierte scharf auf die Operation. Der Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem Imamoğlu, den Erdoğan als Rivalen am meisten fürchtet, trat vor die Kameras und sagte, die Regierung benutze die Justiz als Waffe. Sogleich trat die „mobile Guillotine“ auf den Plan. Noch bevor Imamoğlu seine Rede beendet hatte, wurde gemeldet, gegen ihn sei ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden.

Imamoğlu wird besonders verfolgt

Gegenstand einer weiteren Operation wurde ein Video, das kritisiert, wie die Justiz der CHP droht. Kaum hatte die Partei das Video mit dem Titel „Mobile Guillotine“ gepostet, wurde der Vorsitzende ihrer Jugendorganisation festgenommen. Imamoğlu protestierte auf ei­nem Podium zum Thema „Politisierung der Justiz“ sogleich dagegen. Und zehn Minuten, nachdem er das Podium verlassen hatte, wurde ein weiteres Ermittlungsverfahren wegen „Bedrohung der Justiz“ gegen ihn eröffnet. Erdoğan weiß, dass er Imamoğlu an der Wahlurne nicht besiegen kann, deshalb strengte er einen Prozess an, um ihn mit dem Verbot politischer Betätigung zu belegen. Das Verfahren ist in der Berufung, zugleich versucht Erdoğan, Imamoğlu mit neuen, von der „mobilen Guillotine“ eröffneten Verfahren aus dem Rennen um die Präsidentschaft zu kicken.

Erdoğan verhehlt gar nicht, dass er es auf Imamoğlu abgesehen hat. Kürzlich verteidigte er bei einer Zeremonie die Operationen gegen die CHP mit dem Sprichwort: „Die große Rübe steckt noch im Sack“, was so viel bedeutet wie: „Das dicke Ende kommt noch.“ Damit gestand er ein, dass die Operationen po­litisch motiviert sind. Imamoğlu reagierte postwendend. Es war herausgekommen, dass die Regierung, ähnlich wie sie die „mobile Guillotine“ gegen Oppositionelle einsetzt, auch über einen zweckdienlichen Gutachter verfügt. Auf einer Pressekonferenz, die er mit „Die große Rübe“ betitelt hatte, verkündete Imamoğlu, bei sämtlichen gegen ihn und die CHP-Kommunen eingeleiteten Ermittlungsverfahren sei ein und derselbe Mann als Gutachter eingesetzt worden, sein Name laute Satılmış Büyükcanayakın. (Satılmış ist ein alter türkischer Vorname, der „verkauft“ oder auch „gekauft“ bedeutet, welch seltsamer Zufall, nicht wahr?) Lassen Sie mich diesen Absatz mit einer Information beenden, die Sie nicht erstaunen wird. Oberstaatsanwalt Gürlek blieb natürlich nicht un­tätig, als öffentlich gemacht wurde, dass er von den rund 8000 in Istanbul bestellten Gutachtern nur diesen einen beauftragt hatte: Auch in dieser Sache leitete er Ermittlungen gegen Imamoğlu ein.

Auf dem Landweg nach Istanbul überführt

Die Vorstöße des Oberstaatsanwalts, den Erdoğan einsetzt, um die Opposition zu zerschlagen, richten sich nicht allein gegen die CHP. Auch der Vorsitzende der Zafer-Partei, Ümit Özdağ, der scharfe Kritik an der Migrationspolitik der Regierung geübt und Erdoğans nationalistische Rhetorik bloßgestellt hatte, wurde verhaftet. Seine Rede, die im Palast für Verärgerung gesorgt hatte, hatte Özdağ in Antalya gehalten, gemeldet ist er mit Wohnsitz in Ankara. Doch im Zuge der Ermittlungen wegen Präsidentenbeleidigung, die die von der „mobilen Guillotine“ geleitete Oberstaatsanwaltschaft von Istanbul anstrengte, wurde er beim Essen in einem Ankaraner Restaurant festgenommen. Auf dem Landweg wurde er nach Istanbul überführt, wo dann Haftbefehl gegen ihn erging. Allerdings nicht wegen der jüngsten Rede, sondern wegen fünf Jahre alten Tweets. Was ja noch gar nichts ist. Letzte Woche wurde die Kulturmanagerin Ayşe Barım, die prominente Schauspieler vertritt, aus dem Haus heraus festgenommen, weil sie vor zwölf Jahren die Gezi-Proteste unterstützt und die von ihrer Agentur gemanagten Künstler angeblich zu Protestaktionen angestiftet hätte. Haftbefehl wurde wegen Umsturzversuchs erlassen. Im Falle der Verurteilung droht ihr lebenslange Haft.

Wegen der Wirtschaftskrise schrumpft die Unterstützung der Bevölkerung für das Palastregime rasant. Als klar wurde, dass der Schwund nicht aufzuhalten ist, begann man, nicht bloß gegen die institutionalisierte, sondern auch gegen die außerparlamentarische Opposition vorzugehen. Es werden nicht nur Parteien unter Druck gesetzt, die nicht mit der Regierung und ihren Verbündeten sympathisieren. Ich hatte Ihnen von Gesetzen berichtet, die nach der Übernahme der konventionellen Medien auch die digitalen Medien abwürgen sollen. Das kürzlich erlassene Desinformationsgesetz genügte offenbar nicht, sodass nun ein neues Gesetz zur Cybersicherheit vorgelegt wurde, mit dem die Zivilgesellschaft und ihre Medien geknebelt werden sollen. Fortan können ohne richterliche Anordnung Durchsuchungen durchgeführt und digitale Materialien beschlagnahmt werden. Und der Staat wird mit den Logfiles sämtliche digitalen Bewegungen der Bürger zwei Jahre lang speichern.

Bisher gab es gelegentlich, selten genug, Proteste aus der Wirtschaft. Um selbst diese noch zu verhindern, hat der Palast jetzt ein Gesetz aufgelegt, wie nicht einmal China es hat. Eine vom Palast eingesetzte Kommission kann ohne Gerichtsurteil jedes Unternehmen konfiszieren, wenn ein erheblicher Verdacht besteht. Darf ich Sie an eine zehn Jahre alte Meldung erinnern, um zu verdeutlichen, welchen Unternehmen das droht? 2015 hatte die Türkei den deutschen Behörden eine Liste mit den Namen von 68 Personen und Unternehmen zugestellt, die angeblich Terrorismus unterstützen. Auf der Liste fanden sich auch Firmen wie Daimler und BASF.

Würde der Palast nun, falls das Gesetz durchkommt, solche Unternehmen beschlagnahmen? Ich glaube kaum, dass Daimler mit seinen zwei Werken in der Türkei davonkommt. Unsere Leute werden sich nicht die Gelegenheit entgehen lassen, als Erste die neuesten Mercedes-Modelle zu fahren.

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe.
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