Alexijewitsch und Herta Müller : Einfache Leute
Unsere Erwartungen an die Zukunft beruhen auf Enttäuschungen aus der Vergangenheit. Und auf den wenigen positiven Überraschungen. Die sind oft verbunden mit der Verblüffung über den Heroismus derjenigen, von denen wir es nicht erwartet haben. Einfache Leute halten wir komplizierten Menschen meist für herzensgut, aber nicht notwendig für löwenherzig. Und auch nicht für kunstsinnig. Was für eine Arroganz! Die belarussische Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch stellt rückblickend für sich selbst fest: „Am meisten habe ich von den einfachen Menschen gelernt.“ Mehr sogar als von der Literatur, bekräftigte sie bei ihrem Gespräch mit der deutschen Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller, mit dem jetzt das Berliner Festival „Re:Writing the Future“ eröffnet wurde, denn einfache Leute gäben keine fremden Antworten auf die Fragen des Lebens.
Das war schön gesagt, wie überhaupt der ganze live in gleich drei Sprachen gestreamte Abend wunderschön war, trotz fast fünfundzwanzigminütigem Anlauf mit Begrüßungen und Einführungen, ehe die beiden Schriftstellerinnen endlich zu hören waren. Und dann dauerte es noch einmal vierzig Minuten, bis zum ersten Mal von der Zukunft die Rede war, die doch Thema des Festivals sein soll. Doch wie sich Alexijewitsch und Müller an die Vergangenheit und ihren jeweiligen Weg in die Literatur erinnerten, das war allemal zukunftsträchtig: als große Erzählungen von unvergänglicher Kraft, weil es jeweils Leidenswege waren – in Zeiten der Diktatur.
Als Herta Müller noch Arbeiterin in Rumänien war, lernte sie, die in einem Haus ohne Bücher aufwuchs, die Lyrik kennen: „Die Leute in der Fabrik hatten ihre Lieblingsgedichte, und das waren die besten. Die Angst ist ein unheimlich guter Literaturkritiker.“ Per aspera ad astra, auch wenn einfache Leute das einfacher ausdrücken würden. Alexijewitsch sekundierte mit ihren Erlebnissen aus der Jugend: Die Leute auf der Straße in der Sowjetunion hätten damals stärkeren Eindruck auf sie gemacht als die Figuren bei Dostojewskij. Und das wiederholte sich in den Tagen des Aufruhrs gegen Lukaschenka in Belarus.
Alexijewitsch nahm an diesem Revolutionsversuch teil und urteilt nun selbstkritisch: „Wir haben verloren, weil wir eine schöne Revolution machen wollten, mit Blümchen und Ballons.“ Aber die Kunst als Heimat des Schönen gibt ihr dennoch Hoffnung: „Mit ihrem Feuer kann sie uns aus der Banalität herausreißen. Die Kunst kann den Menschen auf die Zehenspitzen bringen, über sich hinauswachsen lassen.“ Denn Einfachheit allein ist beiden Autorinnen denn doch kein positiver Wert: Swetlana Alexijewitsch stellte klar, dass sie die Rede von „einfachen Leuten“ gar nicht möge, und für Herta Müller sind nur die Diktatoren einfache Leute – einfach brutal.