Zum Tod von Gert G. Wagner : Langzeitbeobachter der Gesellschaft
Niklas Luhmann verdanken wir die Beobachtung, dass wir das Wissen über unsere Umwelt den Massenmedien verdanken. Das ist richtig, aber korrekturbedürftig: Was wir über die deutsche Gesellschaft wissen, verdanken wir insbesondere auch dem Sozio-oekonomischen Panel (SOEP), also auch Gert G. Wagner. 1989 übernahm er am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) die Leitung des SOEP und machte daraus die bedeutendste Datenquelle für die soziologische Langzeitbeobachtung der deutschen Gesellschaft.
Das SOEP, das er bis 2008 leitete, verband die Soziologie mit der Geschichtsforschung und machte es möglich, den gesellschaftlichen Wandel in der Erforschung des Lebens von Individuen sichtbar zu machen. Anstatt immer wieder andere zu befragen, begleitet das SOEP die gleichen Menschen ihr Leben lang – mittlerweile sind es 32.000 Teilnehmer. Dass das SOEP eine Vielzahl soziologischer und psychologischer Forschungsfragen beantworten kann, ist ganz wesentlich der Hartnäckigkeit und dem organisatorischen Geschick Gert Wagners zu verdanken. Heute forschen mehr als 12.000 Forscher aus fünfzig Ländern mit diesen Daten. Was die Welt über die Deutschen weiß, weiß sie auch von den Fragen des SOEP.
Entscheidungsgrundlagen für die Politik
Schon sein Studium der Volkswirtschaft und der Soziologie verriet Wagners Interesse an der Verbindung der beiden Fächer. Neben seiner Arbeit für das DIW war er von 1992 bis 1997 Professor für Sozialpolitik und öffentliche Wirtschaft an der Universität Bochum und von 1997 bis 2002 Professor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere empirische Wirtschaftsforschung und Wirtschaftspolitik, an der Universität Frankfurt/Oder. Von 2002 bis zu seiner Emeritierung 2018 lehrte er diese Fächer an der TU Berlin.
Dass die Politik ihre Entscheidungen in geringerem Maß auf Daten stützt, als Wagner sich das gewünscht hat, hielt ihn nicht davon ab, seine ungeheure Expertise in ihren Dienst zu stellen, sei es als Mitglied des Sozialbeirats der Bundesregierung oder als Mitglied des Wissenschaftsrates. Selbstverständlich war für ihn auch, dass die Forschung ihre Daten selbst pflegen muss. Seine Ämter als Gründungsvorsitzender des Rates für Sozial- und Wirtschaftsdaten oder als Mitglied des Beirats beim Statistischen Bundesamt sind Beleg dafür, dass Wagner dieser Pflicht mit der gleichen Leidenschaft nachgekommen ist wie dem Schreiben von mehr als vierzig Büchern und rund 500 wissenschaftlichen Veröffentlichungen.
Bei der Themenwahl hat sich Wagner um Konventionen wenig geschert. Wenn er über den Fußball forschte, war das genauso methodisch abgesichert wie seine Empfehlungen zur Rentenpolitik. Dass er bei der WM 2014 mit seiner Prognose, Spanien werde wieder Weltmeister, danebenlag, ließ er nicht als Einwand gegen seine Datengrundlage, den Marktwert der Teams, gelten. Er wusste, dass ein Fußballspiel und gute Forschung etwas gemeinsam haben: Das Ergebnis steht nicht schon vorher fest. Jetzt ist Gert Wagner mit 71 Jahren verstorben.