Europa-Rede in Brügge : Steinmeier spürt den „Gegenwind der Geschichte“
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat ein düsteres Bild von der Lage in Europa gezeichnet. „Es gab noch nie eine so schwierige Zeit, um für Europa zu kämpfen – und es gab noch nie eine so wichtige Zeit, um für Europa zu kämpfen“, sagte Steinmeier in einer Rede vor den Absolventen des Europakollegs in Brügge.
Er verwies auf „Bedrohungen für unsere Demokratien sowohl von außen als auch von innen“. Konkret nannte er „die Verlockungen des Populismus und des Extremismus, wie gerade bei den Europawahlen deutlich wurde“, sowie Russlands Krieg gegen die Ukraine, den Angriff der Hamas auf Israel, das Leid im Gazastreifen, den Klimawandel und die digitale Transformation.
„Es sind historisch schwierige Zeiten, in denen Sie sich in den Dienst für das Gemeinwohl stellen“, sagte Steinmeier den Absolventen, von denen traditionell viele eine Beschäftigung in den EU-Institutionen aufnehmen.
Der Krisenmodus als neue Realität in Europa
Steinmeier, 1956 geboren, verglich deren Lage mit seiner eigenen, als er sich 1991 entschieden habe, einen Posten in der niedersächsischen Landesregierung unter Gerhard Schröder (SPD) anzunehmen. Es sei eine Zeit voller Zuversicht gewesen, nach dem Mauerfall, der Wiedervereinigung und dem Ende des Warschauer Pakts. „Die Geschichte war auf unserer Seite“, sagte er. Heute stehe man dagegen im „Gegenwind der Geschichte“.
In Europa scheine „der Krisenmodus die neue Realität zu sein“, die Welt scheine „von Tag zu Tag schlechter zu werden“. Insbesondere warnte er vor einem neuen Nationalismus, der sich bei der Europawahl Bahn gebrochen habe. „Wenn wir alle nur unseren eigenen Weg durchdrücken wollen und dabei das große Ganze Europas auseinanderreißen, dann gewinnt niemand, sondern dann ist alles verloren“, sagte Steinmeier.
Der pessimistische Ton erinnerte an die Rede des französischen Präsidenten Emmanuel Macron Ende April. „Unser Europa kann sterben“, hatte Macron darin immer wieder gesagt. Steinmeier ging zwar nicht auf die Lage in Frankreich ein, wo Macron nach dem Sieg des Rassemblement National in der Europawahl die Nationalversammlung aufgelöst hat und nun ein weiterer Erfolg der Rechtspopulisten möglich erscheint.
Doch ist der Bundespräsident durchaus in großer Sorge über die Entwicklungen dort, ihre möglichen Folgen für Europa und die deutsch-französischen Beziehungen. Auch die schwierige Lage in Berlin drückt auf ihm. Sollte die Regierungskoalition im Streit über den Bundeshaushalt zerbrechen, könnte Steinmeier sich mit einem Antrag konfrontiert sehen, den Bundestag aufzulösen.
Den Studenten des Abschlussjahrgangs an dem Postgraduiertenkolleg in Brügge empfahl er Realismus und eine von Demut, Mut und Kompromissfähigkeit geprägte Haltung. Man dürfe sich „aufgrund unserer Werte und Institutionen niemals überlegen fühlen“ und müsse Partnerschaften mit Ländern anstreben, die „ihren rechtmäßigen Platz auf der Weltbühne suchen“.