Aufholjagd zu China : Indien ist noch lange keine Supermacht

Ministerpräsident Narendra Modi probiert alles, um dem Land mehr Gewicht zu verleihen. Der Abstand zu China bleibt aber groß, schreiben zwei ehemalige Schweizer Botschafter.
Geht man von der Bevölkerungszahl von rund 1,4 Milliarden Menschen aus, ist Indien heute das „größte Land der Welt“. Es hat vor einiger Zeit China überholt. Das scheint der letzte fehlende Anreiz für Indiens ausdrückliche Ambition gewesen zu sein, zu den global dominanten Großmächten USA und China aufzuschließen. Bei den wesentlichen Voraussetzungen für eine solche Zielsetzung, einerseits dem notwendigen wirtschaftlichen Gewicht und andererseits den militärischen Fähigkeiten, verzeichnet Indien jedoch noch immer – und wohl noch lange – erhebliche Defizite. Es wird noch einige Zeit keine Supermacht sein, aber sein Regierungschef arbeitet seit zehn Jahren zielstrebig daran.
Bis vor etwa dreißig Jahren stagnierte Indiens Wirtschaftswachstum im Vergleich mit China, den USA und vielen erfolgreichen Volkswirtschaften des so genannten Globalen Südens. Die in den Neunzigerjahren eingesetzte Deregulierungspolitik ist erst unter dem nun zehn Jahre amtierenden Ministerpräsidenten Narendra Modi nachhaltig geworden. Er hat dem Land in der Tat eine wesentliche Verbesserung seiner Position im inzwischen eingestellten Ranking „Ease of doing business“ der Weltbank verschafft: Es ist vom 142. auf den 63. Rang (im Jahr 2020) aufgestiegen. Mit einer geschätzten Rate von sieben Prozent zählt Indien heute zu den am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt.
Das Land hat aber erst etwa ein Viertel des wirtschaftlichen Gewichts Chinas oder der USA oder der EU erreicht. Dieser trotz allem relativ beachtliche Erfolg war indes nur um einen hohen Preis möglich. Binnenwirtschaftlich ging er zulasten der sozial Schwächsten, innenpolitisch zulasten von Minderheiten, besonders der Muslime, und der politischen Opposition. Deshalb hält die größte Demokratie der Welt heute einem Vergleich mit europäischen oder nordamerikanischen Gesellschaften nicht stand. Sie ist geprägt von einem ideologisch getriebenen Autoritarismus, der die Zusammenarbeit mit westlichen Staaten schwierig macht.
Auch die militärisch-strategische Dimension genügt nicht für das Erreichen des angestrebten Status einer Supermacht. Indiens Militärbudget liegt bei gut einem Viertel des chinesischen und knapp einem Zehntel des amerikanischen Verteidigungsaufwands. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob sich Indien im militärisch unterlegten Wettlauf um globalen Einfluss um nutzbringende strategische Partnerschaften bemüht. Im Jahr 2000 bot US-Präsident Bill Clinton Indien eine strategische Partnerschaft an und löste das traditionell blockfreie und an die verblichene Sowjetunion angelehnte große Drittweltland aus einer selbstverursachten politischen Isolation heraus – eine Zeitenwende.
Aus diesem ersten Schritt einer Annäherung an westlich dominierte Strukturen hat sich eine Mitwirkung Indiens in der Quad (Quadrilateral Security Dialogue) entwickelt, deren jüngste Dynamisierung von Modi ausdrücklich mitgetragen wird. Die vier Partner der Quad sind Japan, die USA, Australien und Indien, und ihre gemeinsame Zielsetzung ist die strategische Eindämmung chinesischer Expansion im Indopazifik, dem Grossraum, der den Westpazifik mit dem Indischen Ozean verbindet. Mit seinem Entscheid, in dieser Allianz aktiv mitzuwirken, ergänzt Modi Indiens jahrzehntelangen Kampf gegen China an seiner viertausend Kilometer langen Landgrenze im Norden im Himalaja um eine strategisch bedeutsame Dimension. Gleichzeitig baut Indien auch seine rüstungstechnologische Zusammenarbeit mit westlichen Partnern, vor allem den USA, Frankreich und Israel, systematisch aus.
Indien und „sein“ Ozean
Die Bezeichnung des Weltmeeres zwischen Indien und Ostafrika als Indischer Ozean entspricht keinem Zufall. Migration und Handel in beiden Richtungen gehen viele Jahrhunderte zurück. Ohne indische Fachkräfte könnten heute die reichen Ölemirate auf der arabischen Halbinsel nicht funktionieren. Dasselbe gilt von Indien in die entgegengesetzte Richtung; in Südostasien finden sich namhafte indische Bevölkerungsteile, die oft generell das Rechtswesen der dortigen Staaten dominieren, so etwa in Singapur und Malaysia.
Großer Widersacher Indiens bei der strategischen Beherrschung „seines“ Ozeans ist China. Ein weiteres Element in der bereits erwähnten Liste der Differenzen zwischen den beiden großen Nachbarn China und Indien ist die Tatsache, dass sich Indien, mit seiner China weit unterlegenen militärischen Macht, heute und in der voraussehbaren Zukunft an die USA anlehnen muss, welche weiterhin die dominante strategische Macht im Indopazifik sind.
Die USA und Indien sind zur Eindämmung des chinesischen Anspruchs auf Dominanz in der Großregion und letztlich in der ganzen Welt in einer Zweckallianz verbunden. Hauptirritant in dieser Beziehung ist allerdings der autokratische Stil der Modi-Regierung. Falls im November Trump ins Weiße Haus einzieht, wird das kaum eine Rolle spielen. Gewinnt aber Kamala Harris mit demokratischen Mehrheiten im Kongress, sieht es anders aus. Einen Vorgeschmack solcher Störungen bildet die Ermordung von Sikh-Aktivisten im Auftrag der indischen Regierung weltweit. Sie sorgen in diesen Tagen für die heftigen Auseinandersetzungen mit Kanadas Regierung.
Das zähe Ringen um den Freihandel
Europa und Indien sind heute, im Gegensatz jedenfalls zur Kolonialzeit, relativ wenig verbunden. Dies gilt sogar für das Großbritannien nach dem Brexit, das fest entschlossen war, den Ausfall seiner Wirtschaftsbeziehungen mit der EU in Form eines ganzen Bündels von Wirtschaftsabkommen mit dem Juwel im seinerzeitigen Kolonialreich zu kompensieren. Trotz, vielleicht auch wegen, eines indischstämmigen Premierministers auf der englischen Seite konnte vor den Wahlen in der ersten Hälfte 2024 kein einziges der geplanten Wirtschaftsabkommen fertiggestellt werden.
Bei den Regierungskonsultationen Ende dieser Woche werden auch Bundeskanzler Olaf Scholz und seine Ministerkollegen in Delhi die seit Jahren währenden Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen (Free Trade Agreement, FTA) ansprechen, ohne dass ein Ende abzusehen wäre. Von EU-Seite werden dabei sowohl Klima- als auch menschenrechtliche Bestimmungen angestrebt, während Delhi auf andauernden Sozialleistungen für indische Arbeiter besteht. Angesichts dieser Blockaden erscheint der erfolgreiche Abschluss Anfang 2024 eines FTA mit der Europäischen Freihandelsassoziation (European Free Trade Association, EFTA), also auch der Schweiz, umso aufsehenerregender. Auf schweizerischer Seite wurde dabei eine Verpflichtung eingegangen, über 15 Jahre hinweg für 100 Milliarden Dollar Investitionen in Indien zu tätigen.
Ob das Abkommen die innenpolitischen Hürden in beiden Ländern erfolgreich überstehen kann, ist ungewiss, da sich etwa die Interessen der Pharmaindustrie in der Schweiz – möglichst langer Schutz von Patenten – und in Indien – möglichst rasche Produktion von Generika – diametral entgegenstehen. Sollte das FTA in der Schweiz zur Volksabstimmung gelangen, wird namentlich die Frage von Kinderarbeit in Indien aufs Tapet kommen. Dazu sind im FTA lediglich relativ unverbindliche Verpflichtungen enthalten.
Zum geographisch nahen Südostasien bestehen erstaunlich wenige tatsächlich funktionierende Bande und dies trotz der von Delhi propagierten Politik des „Look East“. Immerhin gibt es mit der südostasiatischen Staatenvereinigung (Association of Southeast Asian Nations, ASEAN) ein FTA der ersten Generation (Zölle) seit 2010. Mit Japan wurde 2024 ein Doppelbesteuerungsabkommen abgeschlossen. Mit Korea besteht seit geraumer Zeit ein generelles Wirtschaftsabkommen (Comprehensive Economic Partnership Agreement).
Mit Australien verbindet Indien ebenfalls ein wenig detailliertes Rahmenabkommen (Australia–India Economic Cooperation and Trade Agreement), das namentlich Zölle auf indische Exporte abschafft. Die dabei offensichtlich werdenden Probleme dürften symptomatisch sein: Auf australischer Seite kommen aus der Zivilgesellschaft Bedenken wegen Kinderarbeit, auf indischer Seite beklagen sich Produzenten über Konkurrenz für ihre Produkte aus der Agrarindustrie. Indien tut sich allgemein schwer damit, seine bisher geschützte heimische Industrie dem rauen Wind internationaler Konkurrenz zu öffnen.
Der lange Arm Moskaus
Die Beziehungen zwischen Delhi und Moskau sind, mit einer aktuellen Ausnahme, historischer und politischer Natur. Die Unterstützung, primär mit Waffen – was weiterhin andauert – und sekundär in Form von politischer Propaganda der verblichenen Sowjetunion für das damals blockfreie Indien, ist in Delhi unvergessen und erklärt einen guten Teil der achselzuckenden Toleranz von Indien gegenüber der russischen Aggression in der Ukraine. Der andere Teil betrifft die seit den westlichen Embargomaßnahmen gegen Putins Russland emporschnellenden Einfuhren Indiens von russischem Erdöl zu günstigen Bedingungen. Wie lange Europa und, für Delhi wichtiger, die USA dieser Schlaumeierei Modis wegen der strategischen Bedeutung Indiens in der globalen Koalition gegen China noch zusehen werden, ist ungewiss.
Die Russland-Nähe mag wirtschaftlich einen Sinn haben, da Modi im Handelsaustausch riesige Mengen an Erdöl mit großem Rabatt erhält. Aber sie ist naiv, wenn er damit meint, dass er im Falle eines Konflikts mit China aus Russland Unterstützung erwarten könne. Zu weit hat sich Russland in seiner strategischen Isolation und wirtschaftlichen Notlage als „Juniorpartner“ bereits dem Nachbarn China unterworfen.
So ist auch aus regierungsnahen Kreisen zu vernehmen, dass Modis Annäherung an den Westen die langfristig ernsthafte Strategie sei. Die im Gegensatz dazu erscheinende Mitwirkung Indiens in den chinesisch dominierten Strukturen der BRICS-Staaten sowie in der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (Shanghai Cooperation Organisation, SCO), einer ursprünglich russisch-chinesischen Schöpfung für sicherheitspolitische Zusammenarbeit, wird indischerseits den westlichen Staaten gegenüber als Bemühen begründet, den antiwestlichen Drall dieser zwei Organisationen gewissermassen „unter Kontrolle“ zu halten. Der gerade im russischen Kasan zusammengerufene BRICS-Gipfel gilt als grosse Putin-Show, an der jene Länder teilnehmen, die sich als wirtschaftliches und politisches Gegengewicht zur global dominierenden G7 begreifen.
Vor dem Hintergrund dieser strategischen Interessenlage ist bedeutsam, dass sich die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Indien und China in jüngster Zeit vertieft haben. China hat in Indiens Außenhandel die USA als größten Handelspartner abgelöst. Zusätzlich fordern Indiens größte Unternehmen, dass die Regierung mit Konzessionen bei den Vorschriften für direkte Investitionen und für die Einreise chinesischer Techniker den großen Worten über das Industrialisierungsprogramm „Make in India“ auch Taten folgen lässt.
Damit sieht sich Modi, der bei den jüngsten Wahlen einen wesentlichen Wählerverlust hinnehmen musste, in der innenpolitischen Zwangslage, Abstriche an seinem ideologisch getriebenen Anspruch vorzunehmen, gegenüber der strategischen Bedrohung aus China weiterhin den „starken Mann“ zu spielen. Denn in der Tat werden sich die hohen Wachstumsraten nicht fortsetzen lassen, ohne die jüngst eingebrochenen Zahlen ausländischer Investitionen aufzufangen. Chinesisches Know-how mit gleichzeitigem chinesischem Kapital scheint für den Aufbau einer zukunftstauglichen Industriebasis unentbehrlich. Diese neuen Zwänge werden nicht ohne Auswirkungen auf Indiens geopolitische Optionen bleiben können.