Kulturhaupstadt Chemnitz : Unter den Augen von Marx
Der Bundespräsident hat seinen großen Auftritt unter den Augen von Karl Marx. Um 19.03 Uhr am Samstagabend erklärt Frank Walter Steinmeier das Kulturhauptstadtjahr von Chemnitz für eröffnet, und er tut es auf einer Bühne, die als Glas- und Lichtkuppel rund um den „Nischel“ errichtet ist – jenem sieben Meter hohen und vierzig Tonnen schweren Marx-Haupt, das 1971 vor dem damaligen Bezirksratsgebäude aufgestellt wurde und das der Volksmund mit dem sächsischen Wort für „Kopf“ verniedlichte.
Der Bezirk hieß Karl-Marx-Stadt, nach dem Namen, den Chemnitz 1953 verpasst bekommen hatte, und die von einem sowjetischen Bildhauer entworfene Monumentalbüste war so etwas wie das i-Tüpfelchen auf der verordneten neuen Identität. 1990 gab sich die Stadt dann ihren alten Namen zurück, der Bezirk ging auf im wiederbelebten Freistaat Sachsen. Aber der „Nischel“ ist das Wahrzeichen der Stadt geblieben, auch wenn das Areal der Bezirksleitung ein einziges Lügendomizil war. „Systemuntreue“ Chemnitzer machten zu DDR-Zeiten einen weiten Bogen darum.
Dass Chemnitz gerade hier feiert, ist paradox, denn die Stadt charakterisiert die treibenden Kräfte der Programmgestaltung als „Makers of Democracy“, als Macher der Demokratie; das offizielle Motto des Jahres als Kulturhauptstadt Europas lautet schon seit der siegreichen Bewerbung von 2020 „C the Unseen“. Nun gibt es im Deutschen wenige Begriffe, die mit Chemnitz alliterieren, geschweige denn Wortspiele mit „C“ erlauben, und so kann sich die Stadt gar nicht oft genug als „Capital of Culture“ (so die offizielle EU-Titulierung) bezeichnen – das hohe C im Eigenlobgesang.
„Capital“ steht ja nicht nur für „Hauptstadt“
Dass der Stadttitel „Capital“ auch der englische Buchtitel des Hauptwerks von Karl Marx ist, belegt den feinen Humor des Weltgeistes. So knüpft Chemnitz doch wieder an seinen untergegangenen DDR-Namen an. Die Bewerbungskampagne hatte ja ohnehin eine Geschichtsversessenheit versprochen, die gerade aus der Thematisierung der ambivalenten Erlebnisse der Stadt eine Stärke machen wollte, allem voran die Aufarbeitung der rechtsextremen Ausschreitungen vom August 2018 in der Nachfolge eines Totschlags auf dem Chemnitzer Stadtfest.
Davon ist jedoch so gut wie nichts geblieben im tausend Programmpunkte umfassenden Kulturhauptstadtjahr. Eine starke Politisierung hätte wohl auch wenig Begeisterung bei den des schlechten Rufs ihrer Stadt müden Chemnitzern erzeugt. Die Handschrift der beiden Geschäftsführer der für die Organisation zuständigen Kulturhauptstadt gGmbH, Andrea Pier und Stefan Schmidtke, liest sich wie „Bürgernähe“.
Man könnte auch sagen: Politikferne. Und: Selbstbewusstsein. Große Stars müsse man nicht verpflichten, sagte Schmidtke der F.A.Z. vor ein paar Tagen, die kämen von alleine. Die neunzig Millionen Euro Budget fürs Kulturhauptstadtjahr sollen möglichst ganz der Stadt zugute kommen, gerade auch deren eigener Kultur.
Das zeigt sich an Projekten wie der jetzt schon hochgehandelten, aber – mit Ausnahme einer über Chemnitz gestreuten Fotoserie – noch gar nicht sichtbaren Veranstaltungsreihe „3000 Garagen“. Oder an der Besetzung des Eröffnungstags, bei dem seit vierzehn Uhr verschiedene Bühnen in der Innenstadt bespielt wurden – unter anderem mit der hinreißenden Aktion „Tanzende Nachbarn“, die unter Leitung der japanischen Choreographin Yoko Ando betagte Chemnitzer zu einem Ensemble versammelte, dem man mehr Auftrittszeit gewünscht hätte als die Viertelstunde auf der Hauptbühne am Neumarkt. Weitere Termine sollen folgen, sind aber noch nicht bestimmt.
Lokalstolz ist Trumpf
Auf dem Neumarkt hatte gleich zu Beginn um 14 Uhr tatsächlich ein angereister großer Star seinen Auftritt: der Filmregisseur Andreas Dresen. Allerdings in ungewohnter Rolle als Gitarrist und gelegentlicher Sänger einer Band, die Songs des 1998 jung gestorbenen ostdeutschen Liedermachers Gerhard Gundermann nachspielt.
Dresen hat Gundermanns Leben in einen großartigen Film verwandelt, mit Alexander Scheer als Hauptdarsteller, der auch in der Band als Sänger die Hauptrolle spielt (zum Glück). Das erste Lied, und damit die ersten offiziellen Töne des Kulturhauptstadtjahrs überhaupt, hieß: „Hier bin ich geboren“. Das taugte als Ausweis des Lokalstolzes – auch wenn weder Dresen noch Scheer noch Gundermann aus Chemnitz kommen. Im zweiten Lied, „Schwarze Galeere“, hörte man dann: „Sie entkommt nie der Vergangenheit.“ Das konnte man schon eher auf Chemnitz münzen.
Der Neumarkt platzte aus allen Nähten, und das strahlende Winterwetter tat ein Übriges für diesen grandiosen Auftakt. Zweihundert Meter weiter, bei der Jakobikirche, brachte gleichzeitig der in Chemnitz lebende Tansanier Arba Manillah, Friedenspreisträger der Stadt, seine eigens komponierte Hymne aufs Kulturhauptstadtjahr mit dem voluminösen Orchester New Chemnitz zur Aufführung: Trommler, Rapper, Geiger und ein großer Chor. Dazu als Refrain: „Chemnitz-Karl-Marx-Stadt – everybody knows the history.“ Was das Kulturstadtprogramm vergessen hat, brachten die Musiker in Erinnerung.
Bevor der Bundespräsident Karl Marx unter die Augen trat, hatte er noch einen Auftritt im Opernhaus, im Rahmen des vor geladenem Publikum ausgerichteten Festakts zur Eröffnung. Freundliches Raunen erregte Steinmeiers flapsige Bemerkung, er habe für die unter seiner Schirmherrschaft stehende Kulturhauptstadt-Ausstellung „Silberglanz & Kumpeltod“ über die Bergbautradition des Erzgebirges „etwas Kohle lockergemacht“ – um dann zu präzisieren, dass es sich nicht um Geld handelte, sondern um das letzte Stück in Deutschland geförderter Steinkohle, das Bergleute aus Bottrop ihm zum Geschenk gemacht hatten. Allerdings hat die öffentliche Hand mehr als nur diesen ausgestellten Kohlebrocken beigesteuert: Gemeinsam mit dem Land Sachsen trägt der Bund den Löwenanteil der neunzig Millionen. Die Stadt selbst bringt nur ein Viertel auf, und die EU, die den Titel vergibt, hält sich finanziell zurück. Immerhin verlieh sie im Rahmen des Festakts ihren mit 1,5 Millionen Euro dotierten Melina-Mercouri-Preis an Chemnitz. Die Auszeichnung ist Kulturhauptstädten vorbehalten und wird ihnen im Regelfall immer verliehen; die zweite diesjährige Kulturhauptstadt, Nova Gorica in Slowenien, hatte ihn schon im Dezember zugesprochen bekommen.
Die Debatte um Kulturkürzungen möge bitte nicht stören
Der Festakt war aber auch eine Leistungsschau der Städtischen Bühnen, mit Musik, Gesang, Tanz, Puppenspiel. Was das Lob bestätigte, das die angesichts massiver Förderungsstreichungen jüngst arg gebeutelte Kulturstaatsministerin Claudia Roth aussprach: Chemnitz verlange nicht „Gebt uns viel Geld für Superstars“, sondern biete lebendige Stadtkultur. Dass eben die kürzlich erst mit drastischen Sparzwängen konfrontiert wurde, was eine heftige Debatte um die Sinnhaftigkeit und Nachhaltigkeit des Kulturhauptstadtjahrs ausgelöst hat, durfte an diesem sonnigen Eröffnungstag nicht stören. Genauso wenig wie die Demonstration von 350 rechtsextremen „Freien Sachsen“, gegen die sich unter dem bewährten Motto „Wir sind mehr!“ eine in der Tat deutlich größere Gegenkundgebung richtete. Dennoch war die Teilnahme daran angesichts der von der Stadt bestätigten 80.000 Besucher des Eröffnungstags enttäuschend.
So muss man weiter abwarten, ob und wie Chemnitz sich dem ursprünglich erhobenen Anspruch von Geschichtsaufbereitung stellen wird. Wie ohnehin noch viel abzuwarten bleibt in diesem Kulturhauptstadtjahr. So wird etwa der vielversprechende Skulpturenparcours „Purple Path“ erst im April eröffnet. Dafür dann aber doch mit Kunst von Superstars: von James Turrell bis Tony Cragg, von Daniel Buren bis Rebecca Horn. Und an Orten, die weit über Chemnitz hinausführen: verteilt über ganz Mittelsachsen, von Zwickau bis Seiffen und von Schwarzenberg bis Hainichen. Karl Marx wird Augen machen, was ihm da alles nicht unter die Augen kommt. Und vielleicht kommt der Bundespräsident ja auch noch einmal wieder, und dann an einen passenderen Ort in Chemnitz. Oder an einen der dann 38 anderen Schauplätze des „Purple Path“.