Die Merz-Wende :
Das zerkrümelte Wahrheitspathos

Christian Geyer
Ein Kommentar von Christian Geyer
Lesezeit: 2 Min.
Jetzt wird nicht mehr nach links und rechts geschaut: Friedrich Merz
Je kategorischer die politische Rhetorik, mit desto größerer Vorsicht ist sie zu genießen. Woran es liegt, dass Friedrich Merz sich in den größtmöglichen Widerspruch zu sich selbst gebracht hat.
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Hier nur etwas Kleingedrucktes zum Thema „große Worte“. Was die rhetorische Beschwörung des Kategorialen, Fundamentalen, Maßstabbilden­den an­geht, so ist der Wahlkampf ja auch bloß ein Spezialfall des wirklichen Lebens. Denn auf das Geben und Nehmen von Gründen kommt es allenthalben an. Warum dies tun und jenes lassen? Gib Gründe! Und mag es existenzphilosophisch tatsächlich Gründe geben, an deren Befolgung jemand sein persönliches Schicksal knüpft (ich wäre ein anderer, täte ich dies, unterließe ich jenes), so gehört es zum Kompromiss-Vorbehalt von Politik und Wahlkampf, dass deren Willensbekundungen gerade nicht mit einem Wahrheitspathos überzogen werden.

„Mit denen da nicht!“

Es war der CDU-Chef Friedrich Merz, der gegen diese Geschäftsgrundlage des Politischen verstieß, als er am 13. November des vorigen Jahres politische Willensbekundungen im Bundestag mit überzeitlichem Geltungsanspruch versah (mit feierlicher Vehemenz und einem Read-my-lips-Gestus im Kleingedruckten). Der Stil war völlig unnötig, die Sache hätte auch nüchtern zur Sprache gebracht werden können. Gegen sogenannte Zufallsmehrheiten mit der AfD erklärte Merz seinerzeit (bei Maischberger wurde es eben noch einmal dokumentiert) seine Entschlossenheit, „weder bei der Bestimmung der Tagesordnung noch bei den Abstimmungen hier im Hause in der Sache auch nur ein einziges Mal eine zufällige oder tatsächlich herbeigeführte Mehrheit mit denen da“ zustande kommen zu lassen. „Mit denen da“ im AfD-Sitzblock keine Zufallsmehrheiten: Seht meinen ausgestreckten Zeigefinger! Der Widerspruch zum späteren „Weder nach rechts noch links schauen“-Wollen könnte kaum klaffender sein.

Dass sich rote Linien auch anders ziehen lassen, nämlich von vornherein vielfarbig, führte die grüne Fraktionsvorsitzende Katharina Dröge in der ntv-Sendung „Frühstart“ vor. Gefragt, was denn seitens der Union passieren müsse, damit Schwarz-Grün nach der Wahl überhaupt noch denkbar sei, antwortete sie, kategorial blinkend: „Sich an Recht und Gesetz halten.“ Rückfrage des Moderators: Und das tue sie, die Union, jetzt nicht?

Woraufhin Dröge geschickt den dark space der Intentionen eröffnete: „Wenn sie bewusst europäisches Recht brechen möchte, dann nicht, nein.“ An seinen Absichten gemessen, möchte Merz das Recht ja gerade nicht brechen, sondern gegen seine dysfunktionale Umsetzung erfüllen. Was nur wieder bedeutet: Im intentionalen Raum lassen sich rote Linien politisch nicht dingfest machen. Anders als Merz wird Dröge ihr Kleingedrucktes nicht kleinreden müssen.

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