Debatte um Literaturnobelpreis :
Hat Ernaux den Nobelpreis verdient?

Andreas Platthaus
Ein Kommentar von Andreas Platthaus
Lesezeit: 2 Min.
Annie Ernaux am Tag der diesjährigen Nobelpreisbekanntgabe
Kaum war der einhellige Jubel über die Vergabe des Literaturnobelpreises an Annie Ernaux verhallt, wurden Antisemitismusvorwürfe gegen die französische Schriftstellerin erhoben. Aber was haben sie mit ihrem Werk zu tun?
Merken

Annie Ernaux ist eine viel gelesene und hoch ausgezeichnete Schriftstellerin. Den Gipfel ihres Ruhms hat sie am vergangenen Donnerstag er­reicht, als ihr der diesjährige Literaturnobelpreis zugesprochen wurde. Doch am Freitag befand sich die Reputation von Ernaux schon wieder auf Talfahrt, nachdem ruchbar geworden war, dass sie seit 2018 in mehreren Fällen politische Stellungnahmen un­­­terstützt hat, die sich gegen Israel richteten, darunter mehrere des BDS und eine, die nach den wechselseitigen Angriffen von Israelis und Palästinensern vom Mai 2021 als „Brief gegen die Apartheid“ ausgewiesen war.

Noch gibt es keine Em­pörung, die mit der anlässlich der Ver­gabe des Literaturnobelpreises für das Jahr 2019 an Peter Handke zu vergleichen wäre. Handkes Sym­pathie und Engagement für die serbische Seite in den Jugoslawienkriegen waren im Gegensatz zu den Unterschriften von Ernaux schon lange zuvor kritisiert worden, die Schwedische Akademie in Stockholm wusste damals also genau, was sie tat: einen politisch dubiosen Autor auszeichnen, der in ihren Augen je­doch exzellente humanistische Li­te­ratur geschrieben hat. Letzteres ist satzungsgemäß das Kriterium für die Zuerkennung des Literaturnobelpreises, persön­liche Hu­ma­nität ist nicht gefordert (für sie stiftete Alfred Nobel den Friedensnobelpreis).

Aber wie steht es mit dezidierter Antihumanität, wo doch bei Kritik an Israel sofort auch der Gedanke an Anti­semitismus mit im Spiel ist, zumal nach der gerade ab­gelaufenen Do­cumenta? Doch dort ging es um aus­gestellte Kunstwerke, und an deren antisemitischer Botschaft be­stand kein Zweifel. Bislang ist dagegen keine Zeile aus Annie Er­naux’ zahl-, wenn auch nicht um­fangreichen Büchern aufgetaucht, der ein solcher Vorwurf gemacht worden wäre. Die Kritik richtet sich gegen persönliche Meinungen der Autorin. Nun mag man argumentieren, dass es doch gerade das Charakteristikum der Prosa von Annie Er­naux ist, Leben und Kunst untrennbar zu verschmelzen, aber wie verhält es sich dann mit biographischen Aspekten, die nicht zum Gegenstand des Werks geworden sind? Ist darin dann nicht eher ästhetische Distanzierung zu sehen als Verschleierung? Zumal Ernaux andere persönliche politische Überzeugungen ja keineswegs ausgeblendet, vielmehr zu Ausgangspunkten ihres Erzählens gemacht hat?

Differenzierung ist eine Stärke von Literatur. Die Empfindlichkeiten im öffentlichen Diskurs wachsen dagegen permanent, und eine Kultur des Verdachts triumphiert über die der Verständigung. Es gibt keinen Grund, die Israelkritik von Annie Ernaux zu be­schönigen: Über sie sollte man mit ihr streiten. Es gibt aber auch keinen Grund, ihr literarisches Schaffen dadurch diskreditiert zu sehen: Darüber sollte Einigkeit bestehen.

  翻译: