Debatte um Literaturnobelpreis : Hat Ernaux den Nobelpreis verdient?
Annie Ernaux ist eine viel gelesene und hoch ausgezeichnete Schriftstellerin. Den Gipfel ihres Ruhms hat sie am vergangenen Donnerstag erreicht, als ihr der diesjährige Literaturnobelpreis zugesprochen wurde. Doch am Freitag befand sich die Reputation von Ernaux schon wieder auf Talfahrt, nachdem ruchbar geworden war, dass sie seit 2018 in mehreren Fällen politische Stellungnahmen unterstützt hat, die sich gegen Israel richteten, darunter mehrere des BDS und eine, die nach den wechselseitigen Angriffen von Israelis und Palästinensern vom Mai 2021 als „Brief gegen die Apartheid“ ausgewiesen war.
Noch gibt es keine Empörung, die mit der anlässlich der Vergabe des Literaturnobelpreises für das Jahr 2019 an Peter Handke zu vergleichen wäre. Handkes Sympathie und Engagement für die serbische Seite in den Jugoslawienkriegen waren im Gegensatz zu den Unterschriften von Ernaux schon lange zuvor kritisiert worden, die Schwedische Akademie in Stockholm wusste damals also genau, was sie tat: einen politisch dubiosen Autor auszeichnen, der in ihren Augen jedoch exzellente humanistische Literatur geschrieben hat. Letzteres ist satzungsgemäß das Kriterium für die Zuerkennung des Literaturnobelpreises, persönliche Humanität ist nicht gefordert (für sie stiftete Alfred Nobel den Friedensnobelpreis).
Aber wie steht es mit dezidierter Antihumanität, wo doch bei Kritik an Israel sofort auch der Gedanke an Antisemitismus mit im Spiel ist, zumal nach der gerade abgelaufenen Documenta? Doch dort ging es um ausgestellte Kunstwerke, und an deren antisemitischer Botschaft bestand kein Zweifel. Bislang ist dagegen keine Zeile aus Annie Ernaux’ zahl-, wenn auch nicht umfangreichen Büchern aufgetaucht, der ein solcher Vorwurf gemacht worden wäre. Die Kritik richtet sich gegen persönliche Meinungen der Autorin. Nun mag man argumentieren, dass es doch gerade das Charakteristikum der Prosa von Annie Ernaux ist, Leben und Kunst untrennbar zu verschmelzen, aber wie verhält es sich dann mit biographischen Aspekten, die nicht zum Gegenstand des Werks geworden sind? Ist darin dann nicht eher ästhetische Distanzierung zu sehen als Verschleierung? Zumal Ernaux andere persönliche politische Überzeugungen ja keineswegs ausgeblendet, vielmehr zu Ausgangspunkten ihres Erzählens gemacht hat?
Differenzierung ist eine Stärke von Literatur. Die Empfindlichkeiten im öffentlichen Diskurs wachsen dagegen permanent, und eine Kultur des Verdachts triumphiert über die der Verständigung. Es gibt keinen Grund, die Israelkritik von Annie Ernaux zu beschönigen: Über sie sollte man mit ihr streiten. Es gibt aber auch keinen Grund, ihr literarisches Schaffen dadurch diskreditiert zu sehen: Darüber sollte Einigkeit bestehen.