Film „Jupiter“ :
Eltern ohne Schutz auf Erden

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Nah genug für ein ganzes Weltall: Mariella Josephine Aumann als Lea
Kann es sein, dass wir Menschen nicht auf diese Welt gehören? Benjamin Pfohls phantastisches Familiendrama „Jupiter“ überrascht im Kino.
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Die Mutter des Jungen, der nicht auf die Welt passt, schimpft die Behörde aus, am Telefon: „Jahr für Jahr zahlen wir unsere Beiträge, und wenn man jetzt wirklich mal Hilfe braucht, wirklich Hilfe braucht, dann bekommt man nichts als Scheiße.“ Die Behörde legt auf. Der Vater des Jungen flüchtet sich, scheint es, in irgendeine unklare Art Ehebruch, auch in seine Selbständigkeit; es hilft nichts. Als der Junge, Paul, einmal in einer Tankstelle einen seiner Anfälle hat – kehliges Klagen, Vor-und-zurück-Schaukeln, mit der Seele um sich schlagen –, greift der Vater einen Glotzer an, der das mit dem Handy filmt. Aber der Beschützer hält die Nähe des Kindes in seiner Not kaum aus. Er hat Angst vor dem Leid dieses Kindes. Seine Liebe zum Sohn kann mit seiner Aggression gegen alles, was den Jungen bedroht, in der Bedrängnis schwer mithalten.

Die Schwester des Jungen ist etwas älter als dieser und die Hauptfigur des außergewöhnlich gescheiten, traurigen und schönen Spielfilm-Regiedebüts „Jupiter“ von Benjamin Pfohl (der zusammen mit Silvia Wolkan auch das Drehbuch dafür geschrieben hat). Diese Lea weiß und begreift mehr als ihre Um­gebung, als alle ihre Mitschülerinnen und Mitschüler, auch ihre Eltern, und wird, als sie dieses Wissen und Begreifen mit ein paar Bemerkungen über das Verhältnis zwischen Menstruation und Sterilisation in der Clique demonstriert, natürlich angefeindet. Später hält sie in der Klasse einen glasklaren Kurzvortrag über invasive Arten in Ökosystemen, und dafür wird sie nicht nur angefeindet, sondern harsch ausgelacht. Die ­Heranwachsenden lachen, weil Lea nicht nur von Japan, sondern auch vom Jupiter redet. Leas Mutter hat sich nämlich einer Sekte angeschlossen (und ihre nächsten Angehörigen mit hineingezogen), deren Stimme, es ist die von Ulrich Matthes, eine schwere Botschaft hat – „ Ja, ich spreche es aus: Wir gehören nicht in diese Welt.“

Wie sollte eine Familie, die erleben muss, was Barbara, Thomas und die ­Geschwister Lea und Paul erleben, das nicht plausibel finden? Die Sekte hofft, dass ein (sich tatsächlich der Erde nähernder) Komet alle Menschen, die verstanden haben, dass sie keine Erdlinge sind, sondern Gestrandete von anderswo, zurückbringt auf den Jupiter, wo wir eigentlich herkommen. Dazu müssen diejenigen, die bereit sind, sich retten zu lassen, allerdings einige ziemlich endgültige Maßnahmen treffen. Etwas wie das, was „Jupiter“ zeigt, hat 1997 wirklich stattgefunden, als apokalyptisch-astroreligiöse Horror-Familienaufstellung einer UFO-Kultgemeinde namens „Heaven's Gate“ rund um einen Mann namens Marshall Herff Applewhite, in Kalifornien (und teils im Internet, das damals allerdings noch von nichts eine Ahnung hatte). Wäre man unvorsichtig, würde man sagen: Der Film spielt mit dem Stoff jener Tragödie. Aber Pfohl nimmt die Sache ernster, als die Medien das damals konnten, und ernster, als Wikipedia das heute kann.

„Jupiter“ lebt vom Kernensemble

Eine Tragödie ernst nehmen, das heißt: die Menschen zeigen, in ihren stillsten Schrecken. „Jupiter“ lebt vom Kernensemble. Dazu gehört Laura Tonke, die als Mutter Barbara der Familie aufopferungsvoll das erarbeitet, was kleine und große Menschengruppen so oft suchen und so schwer finden, einen gemeinsamen Willen. Und Andreas Döhler, der sich als Vater Thomas nach seiner verlorenen Liebe zu Frau und Kindern streckt, die ihm vor lauter Überforderung aus dem Herzen gerutscht sind. Schließlich die beiden ­Kinder selbst, Henry Kofahl als welt­verlorener Junge Paul, der im selben Moment ebenso entrückt wie präsent wirken kann, und die Hauptdarstellerin, die Heldin, die größte aller Fragen in diesem Film, Mariella Josephine Aumann als Lea.

Findet in der Sekte eine zweite Familie: Thomas (Andreas Döhler)
Findet in der Sekte eine zweite Familie: Thomas (Andreas Döhler)Missing Films Verleih

So nah und deutlich, oft bis zur Klarheit einer Migräneattacke, diese Personen einander im Laufe der Story rücken, so wenig wirken die Verweise auf das, was überhaupt nicht nah ist, sondern kosmisch, je fehl am Platz; schon gar nicht die Zwischeneinblendungen vom Planeten Jupiter. Diese chromophorische Riesenrauchsuppe: Wasserstoff, Helium, gelber und brauner Smog, katastrophenkalte Wolken (minus 130 Grad Celsius!), Ammoniak . . . Zwischen dem inwendigen Familienraum und dem außerirdischen Sphärenraum leben „die Leute“, als das sogenannte Soziale, und dann gibt’s noch die hiesige Natur.

Höchstens halbwahre Dämmerung

„Die Leute“, soweit sie zur Sekte gehören, sind auch nicht weniger tätowiert als die restliche Menschheit in der Fußgängerzone und baden gern nackt im Wald. Dort, auf einer Anhöhe, hat der Kult seine Anlage zum Abheben montiert, einen geometrischen Behelfsdom, umstanden von Bäumen, die ebenso gut Radioantennen für astro­nomische Horchforschungen geheimer Höhlenzwerge sein könnten. Auf den Bergen ringsum liegt Schichtenlicht einer höchstens halbwahren Dämmerung.

Die hellsichtige und -hörige Immernacht des Kinosaals ist der ideale Ort für diese Geschichte; bei der Produktion hat allerdings das Fernsehen mitgeholfen, das ZDF. Eine atmosphärische Zeitgenossenschaft, die „Jupiter“ mit ­einigen der besten Genre-Serienproduktionen verbindet, etwa Damon Lindelofs „The Leftovers“ (2014 bis 2017), tut Spielfilmen offenbar gut; ohne In­spiration aus dieser Gegend wäre ja zum Beispiel auch der große Phantastik-Kinolichtblick des letzten Jahres, „I Saw the TV Glow“ von Jane Schoenbrun, nicht möglich gewesen.

Serien, das heißt langer Atem. „Jupiter“ beweist ihn kleinteilig: In den Blickwechseln zwischen Matthes und Aumann, die Pfohl und sein Kameramann Tim Kuhn zeigen, finden Schauspiel- und Regiekunst zueinander – der Mann da glaubt alles, sogar das, was er lügt, das Mädchen glaubt gar nichts, nicht mal das, was es selbst herausfindet. Darin durchschauen sie einander.

Ein Film, der so viel über Vertrauen und Skepsis weiß, hätte das Recht auf ein plattes Ende, auf Erlösung oder Verdammnis, Eindeutigkeiten. Aber „Jupiter“ hat kein plattes Ende. Der Schluss ist ein kindlich cleverer Kniff von erhabener Unversöhnlichkeit gegenüber der Welt, in der wir leben. Von ihr wenden sich Sekten ab und denunzieren sie; dieselbe Welt bringt solche Sekten freilich hervor, sie ist ihre Mutter. Wir kennen das ganze Problem unter dem Namen „Gegenwart“; ihr sind wir ausgeliefert. Die rettende Zukunft dagegen, sagt „Jupiter“, ist die Zeit, in der all die armen Erinnerungen Schutz finden, die wir heute schon sind.

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