Eastwoods letzter Film : Was tun, wenn der Schuldige in der Jury sitzt?
Im Mai wird Clint Eastwood 95 Jahre alt. Seit siebzig Jahren steht er vor der Kamera, seit mehr als einem halben Jahrhundert dreht er selbst Filme; „Juror No. 2“ ist seine zweiundvierzigste und, wie es heißt, vermutlich letzte Kinoarbeit. Man könnte also erwarten, dass sich Eastwood, wie es John Huston, Ingmar Bergman, Akira Kurosawa und andere Regisseure seiner Statur getan haben, in seinem Schlussstück mit Altern und Tod, Erinnerung und Vergänglichkeit befasst. Aber der Film tut etwas ganz anderes. Er springt mitten hinein in die Gegenwart Amerikas, und er bringt ein Grundproblem der amerikanischen Gesellschaft auf den Punkt.
Der Magazinjournalist Justin Kemp (Nicholas Hoult) wird als Geschworener in einem Mordprozess berufen. Angeklagt ist ein Mann, der seine Freundin nach einem Kneipenstreit auf der Landstraße verfolgt, geschlagen und von einer Brücke in den Tod gestoßen haben soll. Die Staatsanwältin Faith Killebrew (Toni Collette) will durch eine rasche Verurteilung ihre Kandidatur als Bezirksstaatsanwältin beflügeln, der Pflichtverteidiger wirkt überfordert, die Mehrheit der Geschworenen ist bald von der Schuld des Angeklagten überzeugt.
Der Juror weiß mehr über den Fall, als ihm lieb ist
Doch schon am ersten Verhandlungstag wird Kemp klar, dass er mehr über den Fall weiß, als ihm lieb sein kann. In der Mordnacht war er selbst im Auto auf der fraglichen Straße unterwegs; als er einen Schlag gegen den Wagen spürte, stieg er aus, um den Schaden zu begutachten, und nach einem Blick auf ein Wildwechsel-Warnschild fuhr er in der Überzeugung weiter, ein Tier gestreift zu haben.
Die Sache wird dadurch kompliziert, dass Justin Kemp, wie er in einer der Jurysitzungen bekennt, ein früherer Alkoholiker ist, den seine Frau mit Liebe und Geduld vom Trinken abgebracht hat. Vor Jahren haben die Eheleute Zwillinge vor der Geburt verloren, jetzt erwartet das Paar abermals ein Kind. An dem Abend, an dem der Mord geschah, saß der Magazinjournalist in Sichtweite des Angeklagten in der Bar vor einem Drink. Dass er ihn nicht angerührt hat, würde ihm vor Gericht niemand glauben, wie Kemps Mentor bei den Anonymen Alkoholikern (Kiefer Sutherland) seinem Schützling erklärt. Dazu kommt, dass „vehicular homicide“, Tötung im Straßenverkehr, im Bundesstaat Georgia, wo der Film spielt, als Mordtat gilt. Würde er sich dem Gericht offenbaren, könnte Justin Kemp die gleiche Strafe drohen wie dem Mann, dessen Schicksal nun in seiner Hand liegt.
Die Geschichte des Jedermann und seines Charakters
Es geht um den Konflikt zwischen dem Interesse des Einzelnen und dem Gesetz in „Juror No. 2“ – einen Konflikt, der in jedem Rechtsstaat existiert, aber im britisch-amerikanischen Rechtssystem dadurch verschärft wird, dass Laienjurys bei Kapitalverbrechen über Schuld und Unschuld entscheiden. Jonathan Abrahams, der Autor des Drehbuchs, hat die Schraube noch weiter angezogen, indem er Justin Kemp in einen typischen Eastwood’schen Helden verwandelt hat, einen Mann, der sich nach mehreren Tiefschlägen und einem inneren Reinigungsprozess auf dem geraden Weg in die Zukunft befindet.
Was Kemp passiert ist, kann jedem passieren, und ebendas hat Clint Eastwood an der Story interessiert. Wenn man Eastwoods Werk von „Play Misty for Me“ bis „Juror No. 2“ auf seine Essenz reduziert, ist es die Geschichte des Jedermann, der in der Stunde der Bewährung seinen Charakter enthüllt.
Wie souverän Eastwood seinen Stoff beherrscht, wird bereits in den ersten Szenen des Prozesses deutlich. Die Befragung der Zeugen und des Angeklagten ruft das jeweils passende Bruchstück aus Kemps Erinnerung auf, bis das Bild der Tatnacht komplett ist, und die Plädoyers der Staatsanwältin und des Verteidigers sind parallel montiert, wobei jeder das Gegenteil des anderen behauptet. Das eigentliche Meisterstück des Films aber sind die Jurysitzungen. Wie in Sidney Lumets Kinoklassiker von 1957 bilden Eastwoods Geschworene einen Querschnitt der amerikanischen Gesellschaft, aber anders als bei Lumet verstehen sie die Wahrheitsfindung nicht als patriotische Aufgabe. Sie wollen nach Hause. Der eine hat einen Verein, der andere einen Blumenladen, die Dritte ist Tiertrainerin, und bei Kemps Frau rückt der Entbindungstermin immer näher. Das Eigeninteresse der Juroren kollidiert mit ihrer bürgerlichen Pflicht, und die Waage der Justitia, deren Statue vor dem Gerichtsgebäude wacht, gerät bedenklich ins Schaukeln. Wie immer spricht Eastwood die Warnung, die in seinen Bildern steckt, nicht aus. Er gibt nur einen Wink.
Unmerklich verschiebt sich der Schwerpunkt der Erzählung vom Journalisten Justin auf die Staatsanwältin, die ihren Vornamen nicht zufällig trägt. Sie glaubt an das System, in dem sie Karriere macht, um die Rechte der Frauen zu stärken, aber ihr Glaube an die Gerechtigkeit ist noch tiefer. Deshalb verletzt sie die Regeln, um den Angeklagten im Gefängnis zu besuchen. Als er ihr gegenübersitzt, bricht die Fassade der Toughness, mit der Toni Collette bis dahin durch den Film gelaufen ist, einen Augenblick lang zusammen. Das genügt.
Von nun an ist Faith der Motor der Geschichte, und auch wenn sie den Schuldspruch der Jury nicht verhindern kann, wird sie am Ende den wahren Schuldigen aufspüren. Wer von Eastwood einen Kommentar zur Lage Amerikas am Beginn der zweiten Amtszeit von Donald Trump erwartet, wird vergeblich in dieses virtuose filmische Vexierbild blicken. Wer aber einen Menschen kennenlernen will, der imstande wäre, den Trumps des Landes zu widerstehen, der findet ihn in der Staatsanwältin Faith.