Nachruf auf Manfred Kohnke : Der Geschmack an der Macht
Man stelle sich vor, Marcel Reich-Ranicki, der legendäre Literaturchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, hätte die Rezensionen der Neuerscheinungen nicht Tag für Tag in die Zeitung gesetzt, sondern ein ganzes Jahr lang gehortet und dann auf einen Schlag herausgebracht, in einem kritischen Wälzer. Oder man male sich aus, Joachim Kaiser, Reich-Ranickis kaum weniger legendärer Münchner Kollege, hätte sich mit einem Opern-Almanach selbständig gemacht und übers Jahr keinen einzigen „Figaro“ besprochen, sondern auf einen Rutsch die Jahresproduktion sämtlicher Häuser. Verleger und Intendanten hätten jedes Jahr gezittert an dem Tag der Publikation dieser Urteilssammlungen. Und für die an Urteilsbegründungen interessierten Freunde der Künste wäre es ein Festtag gewesen.