Kommentar : Deutsch-polnischer Flurschaden
Zwischen Deutschland und Polen hängt der nachbarliche Haussegen schief. Darüber konnte auch das herzliche Einvernehmen nicht hinwegtäuschen, das Staatspräsident Kwasniewski auf Anhieb mit Bundespräsident Köhler herstellte. Spannungsfrei und freundschaftlich ist das Verhältnis zwischen beiden Völkern zwar seit mehr als zweihundert Jahren nicht gewesen, doch nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation, die gerade von kommunistischer Seite mit nationalistischen Emotionen geschürt worden war, schien man sich schon einmal erheblich näher gekommen zu sein als heute.
Man sprach von deutsch-polnischer Interessengemeinschaft, als Berlin die Aufnahme Polens in die Nato und die EU unterstützte. Auf polnischer Seite gab es erstaunliche Ansätze zur Überwindung der "Erbfeindschaft". Zeugnisse deutscher Vergangenheit wurden nicht mehr nur unter dem Aspekt eines immerwährenden Verdrängungskampfs gesehen, das Ende des jahrhundertelangen deutsch-polnischen Nebeneinanders nicht mehr nur als Akt historischer Gerechtigkeit. Leuchtendes Beispiel für die Ernsthaftigkeit, mit der man an die Aufarbeitung des Kapitels Vertreibung ging, ist die auf vier Bände angelegte Dokumentation der Vertreibung aus polnischen Quellen. Die Zeit schien reif für die Initiative des Bundes der Vertriebenen, das Schicksal des deutschen Ostens im Geist der Aussöhnung neu in Erinnerung zu bringen.
Doch die Auseinandersetzung über das Projekt Zentrum gegen Vertreibungen richtete einen politischen Flurschaden unabsehbaren Ausmaßes an. Die polnischen Reaktionen auf die Stiftungsinitiative der BdV-Vorsitzenden Steinbach und des Sozialdemokraten Peter Glotz arteten zeitweise in ein Säbelrasseln aus, wie man es zuletzt in finstersten Zeiten des Kalten Kriegs erlebt hatte. Als Fußnote ist festzuhalten, daß es deutsche Politiker, Professoren und Publizisten waren, die die polnische Öffentlichkeit gegen das Stiftungsprojekt und dessen Urheber mobilisierten. Ihre Verdächtigungen kamen postwendend als handfeste Tatsachenbehauptungen aus Polen zurück.
Hochangesehene Persönlichkeiten wie der frühere Außenminister und Friedenspreisträger Wladyslaw Bartoszewski warfen Frau Steinbach vor, Revanchismus in neuem Gewand zu betreiben, die Geschichte umschreiben und aus Tätern Opfer machen zu wollen. Der vermeintliche Beweis für diese Behauptungen kann jedoch nur auf Umwegen geführt werden: durch Verweis auf die Preußische Treuhandgesellschaft, einen Verein, der private Vermögensansprüche gegen Polen vor internationalen Gerichten geltend machen will und durch seinen Vorsitzenden gleichfalls mit dem BdV verbunden ist.
Woher die Bereitschaft, die vielen fruchtbaren Ansätze zu einer Verständigung über die Vergangenheit durch einen Verein zunichte machen zu lassen, der in Deutschland völlig unbekannt ist, keinerlei politischen Rückhalt genießt und sogar unter Vertriebenen eine Randexistenz führt? Woher das abgrundtiefe Mißtrauen gegen die Vertriebenen gerade jetzt, da sie ihre Unversöhnlichkeit überwunden haben und mit Leidensgenossen aus ganz Europa ein sichtbares Zeichen gegen Vertreibungen setzen wollen?
Ein Grund war das unglückselige Zusammentreffen der Stiftungsinitiative mit der Debatte über den Fall Jedwabne, der in Polen ähnlich hohe Wellen schlug wie hierzulande die Goldhagen-Kontroverse. Der Historiker Jan T. Groß hatte nachgewiesen, daß die Nationalsozialisten unter den polnischen Einwohnern der Ortschaft Jedwabne willige Helfer bei der Judenvernichtung gefunden hatten. Plötzlich sah man sich von zwei Seiten in die Zange genommen - von der jüdischen, die den Opfermythos der Polen in Frage stellte, und von der deutschen, die ebenfalls eine polnische Täterrolle bei der Vertreibung ins Licht zu heben gedachte. Für viele Polen, die ohnehin das Gefühl haben, daß ihre Leiden unter Hitler weniger gewürdigt werden als der Holocaust, war das zuviel der Zumutungen.
Fortdauernde Gründe liefert der Transformationsprozeß in Polen, der im subjektiven Empfinden der Bevölkerung bis heute mehr Verlierer als Gewinner hervorgebracht hat. Noch bevor die Freiheit, die Solidarnosc erkämpfte, die erhofften Früchte trägt, wird sie schon wieder an der Brüsseler Tür abgegeben. Die Befürchtung, dort von stärkeren Nationen über den Tisch gezogen zu werden, war zuletzt beim Feilschen um den Abstimmungsmodus in der EU-Verfassung zu spüren. Solche Ängste haben ein Drittel der polnischen Wähler in die Arme extremistischer Parteien getrieben. Mit antieuropäischen und antideutschen Ressentiments werden in Polen heute glänzende politische und publizistische Geschäfte gemacht. Selbst gemäßigte Parteien kommen nicht umhin, dem von Einpeitschern alter Schule geschürten Nationalismus Tribut zu zollen.
Solange hüben und drüben so unterschiedliche Denkmuster vorherrschen, ist die Zeit wohl doch noch nicht reif für ein gemeinsames Erinnern. Verfehlt ist die Stiftungsinitiative deshalb aber nicht. Die Deutschen haben ihrer wiedervereinigten Hauptstadt als Gründungsakte ein Schuldbekenntnis mitgegeben, das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas. Es soll bezeugen, daß die Deutschen ihre Lektion aus der Geschichte gelernt haben.
Sie haben sie jedoch nur halb gelernt, solange sie begangenes Unrecht anders gewichten als erlittenes und Vertreibungsverbrechen als "Folge" vorausgegangener Untaten bagatellisieren. Statt den zweiten Teil der Lektion, die generelle Ächtung ethnischer Säuberungen, zu "europäisieren", also abzuschieben, sollte sich die Bundesregierung endlich auch zutrauen, gemeinsam mit den Vertriebenen ein Beispiel dafür zu geben, wie man den eigenen Opfern der Geschichte so gerecht wird, daß kein Nachbar daran Anstoß nehmen kann.