Neuer Roman von Ursula Krechel : Was Söhne ihren Müttern antun
Dass Ursula Krechels neuer Roman „Sehr geehrte Frau Ministerin“ – publiziert sieben Jahre nach „Geisterbahn“ und nach einem Verlagswechsel – als Titel eine Anredefloskel trägt, könnte man als Erfolgsanknüpfung ihrer neuen publizistischen Heimat, Klett-Cotta, an Martina Hefters ebenfalls in diesem Hause erschienenen letztjährigen Buchpreisgewinner betrachten, der bei der Titelwahl ja genauso vorging: „Hey guten Morgen, wie geht es Dir?“. Aber als Hefters Roman herauskam und seinen vielfachen Siegeszug durch die Jurys dieser Welt antrat, stand Krechels Titel längst fest; das Manuskript, so kann man der letzten Seite ihrer Geschichte entnehmen, wurde am 29. Februar 2024 abgeschlossen – nach fast zweijähriger Schreibarbeit, denn auch über deren Beginn werden wir informiert: Er erfolgte am 1. April 2022.
Diese Genauigkeit der Datierung passt zur Präzision des Schreibens der 1947 geborenen Ursula Krechel. Kürzlich hat sie ihren Vorlass der Berliner Akademie der Künste übergeben, und anhand dessen akribischer Sortierung wurde deutlich, wie systematisch diese Schriftstellerin an ihre Themen herangeht. Krechel war lange Zeit als Theater- und Lyrikautorin erfolgreicher denn als Prosaistin, und die auf diesen literarischen Feldern erforderliche sprachliche Konzentration hat sie geprägt. Mit dem 2008 publizierten Buch „Shanghai fern von wo“ übers deutsche Exil in der chinesischen Stadt zur Zeit des Nationalsozialismus wurde sie dann auch als Romancière bekannt, und 2012 gewann der Nachfolger „Landgericht“, der von der Rückkehr eines jüdischen Exilanten ins Nachkriegsdeutschland erzählt, den Deutschen Buchpreis.
Aber Ursula Krechel war schon vorher durch Formbewusstsein und gesellschaftspolitische Themenwahl aufgefallen. So hatte sie etwa 1993 die Erzählung „Sizilianer des Gefühls“ herausgebracht, das einfühlsame Psychogramm eines homosexuellen Schauspielers vor der biographischen Folie von dessen Vater und Großvater, die sich Kaiser- beziehungsweise Drittem Reich angeschmiegt haben – drei denkbar gegenläufige und doch buchstäblich eng verwandte Leben. Für die Einfühlung einer Autorin in schwule Seelenzustände waren seinerzeit jedoch Kritik und Publikum noch nicht bereit.
Dieser Exkurs gehört deshalb zur Besprechung des neuen Romans, weil Ursula Krechel anlässlich ihrer Vorlass-Übergabe selbst gesagt hat, dass sie in „Sehr geehrte Frau Ministerin“ so etwas wie das Komplementärbuch zu „Sizilianer des Gefühls“ sieht – statt drei Männern stehen nun drei Frauen im Mittelpunkt, und besonders auffällig ist die motivische Wiederaufnahme eines Schockmoments in beiden Büchern gegen Schluss, bei dem jeweils Protagonisten schwer verletzt werden. Mehr soll hier gar nicht gesagt sein, um den Spannungsbogen des Romans nicht zu beschädigen, doch es gibt überdies noch verblüffende charakterliche Ähnlichkeiten zwischen Carlo Saager, der Zentralfigur aus der 32 Jahre alten Erzählung, und dem einzigen männlichen Protagonisten in „Sehr geehrte Frau Ministerin“, dem sechsundzwanzigjährigen Philipp Patarak.
Das Abgründige des Romans liegt in der Unsicherheit, wer erzählt
Der ist der berufs- und antriebslos in seinem alten Kinderzimmer vor dem Computerbildschirm sitzende Sohn der alleinerziehenden Verkäuferin Eva Patarak, die im Laufe des Romans ihren Arbeitsplatz verlieren wird – und das Vertrauen ihres einzigen Kindes schon länger verloren hat. Die beiden anderen Frauen, um die es geht, sind Silke Aschauer, eine ohne Familie lebende krebserkrankte Studienrätin für Latein, und die namentlich ungenannt bleibende deutsche Justizministerin, eine verheiratete Mutter von zwei kleinen Kindern. Schauplatz des Geschehens ist Essen als Wahlkreis der Ministerin sowie Standort von Aschauers Gymnasium und jener Filiale einer Kräuterladenkette, die Patarak beschäftigt und nach Übernahme des Unternehmens geschlossen wird.
Was die drei Frauen bei aller Unterschiedlichkeit verbindet, ist der Schreibwillen der Lehrerin. Und hier wird es besonders interessant, denn Ursula Krechels Domäne war zuletzt, von „Shanghai fern von wo“ bis „Geisterbahn“, die Verbindung von Dokumentarischem mit Fiktionalem. Im neuen Roman ist das anders. Silke Aschauer begibt sich darin literarisch auf die Spur Eva Pataraks, die sie als Kundin von deren Geschäft kennengelernt hat und zum Gegenstand einer Erzählung machen will – zumindest vermutet Patarak das. Und aus dieser Vermutung entsteht das reizvoll Abgründige der Romanhandlung, denn es bleibt unklar, wer sie überhaupt erzählt: Lesen wir tatsächlich das Konstrukt der gebildeten Lateinlehrerin? Zumal eine vierte Frau zweitausend Jahre früher mit im literarischen Spiel ist: Agrippina, die Mutter des römischen Kaisers Nero, die laut den Überlieferungen von Tacitus und Cassius Dio ihre eigenen Probleme mit dem Werdegang des Sohnes hatte.
Ursula Krechel entwickelt in ihrem Roman ein ebenso verweis- wie lehr- und geistreiches Spiel mit Autorfiktionen, in dessen Verlauf die Erzählperspektive in einem einzigen Absatz zum Familienleben der Pataraks bisweilen verdreifacht wird. Aus den jeweiligen Ichs von Mutter und Sohn erwächst da eine auktoriale Perspektive: „Sieh mich an, sieh mich doch endlich an, hätte ich ihm zurufen wollen, aber er sah mich nicht an. Mutter wollte, dass ich mit ihr spreche. Er öffnete die Kühlschranktür, nahm eine Packung Fleischsalat heraus ...“ Wer als Leser einen Moment lang nicht aufpasst, verliert den Familienanschluss.
Augen auf für die Zündstoffe unserer Gesellschaft
Auch in „Sehr geehrte Frau Ministerin“ aber ist das Dokumentarische Teil des Fiktionalen: Eva Pataraks Abrutschen in Arbeitslosigkeit ruft Erinnerungen an die „Schlecker-Frauen“ wach, und der politische Alltag der Justizministerin kommt geradezu tagesaktuell daher – mit Gesetzesinitiativen zum Urheberrecht im Zeichen von KI oder Bauernprotesten gegen einen Kabinettskollegen. Ursula Krechel hat in den beiden Jahren ihres Schreibens Augen und Ohren weit offen gehalten; entstanden ist eine Chronik unserer Gesellschaft und deren Zündstoffe am Beispiel des Lebens dieser drei Frauen aus drei Schichten. Zugleich aber auch ein feministischer Roman sui generis, der aus den Erfahrungen seiner Protagonistinnen mit deren biologischer Rolle als Frauen eine geschlechtsspezifische Konstante gewinnt, die sich in Selbstzweifeln artikuliert – ganz anders als bei den drei Männern, die Krechel in „Sizilianer des Gefühls“ auftreten ließ.
Dieser Roman ist eine Herausforderung an uns als Leser, aber er fordert auch die Gegenwart in die Schranken und ficht mit ihr einen Zweikampf auf Leben und Tod aus. Dass die drei Frauen am Schluss, anders als Agrippina, den misogynen Bedingungen ihrer Zeit nicht erlegen sind, ist ein Triumph, aber einer, den Ursula Krechels Buch nicht auskostet, sondern als Resultat eben eines Kampfes mit sich selbst und der Umwelt darstellt, der nur deshalb nötig ist, weil eine jahrtausendealte Benachteiligung fortwirkt. Krechel entfaltet bei seiner Beschreibung eine veritable literarische Kampfkunst. Gegen manches autofiktionale Barmen ist dieser hochpoetische und hochpolitische Roman ein hochwillkommenes Gegengift.
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2025. 363 S., geb., 26,– €.