Neue Musik bei Ultraschall : Was wird hier gespielt?
Dieses Glück ist wie jedes echte Glück, sonst wäre es erarbeitete Leistung, nicht zu fassen. Darin liegt auch das Schmerzliche, weil es Beschenkt-Werden und eigenes Unvermögen verschmilzt. Wenn Michael Pflumm mit warmem, ganz und gar nicht schneidendem Tenor die Töne cis-h auf dem Wort „Glück“ singt, hört man sie in diesem letzten Lied von Wolfgang Rihm als Verklärungsvorhalt in H-Dur, durch die Töne ces-es in der rechten Hand von Axel Bauni auf dem Klavier enharmonisch verstärkt.
Doch dann wird die Emphase des Glücks noch überboten durch jene des Verlassenwerdens, die Pflumms Stimme, die sich völlig unverkrampft in diese Höhe wagen kann, bis zum Vorhalt es-d treibt. Und in einem langen Nachspiel, morendo, ersterbend, verweht die Musik wie im Sommerwind.
Erinnerung an Grüning, Rihm und Reimann
„Unzeitige Einsicht“ ist dieses Gedicht von Uwe Grüning überschrieben. Es hat nur zwei Zeilen: „Jetzt erkenn ich dich ganz, du sinkender Reichtum des Sommers! ,Du erschaust erst dein Glück, wenn es dich scheidend verläßt‘“. Es steht am Ende von Rihms letztem Liederzyklus „Überwundene Zeit“, geschrieben zwischen März und Juni 2022. Dichter und Komponist sind im vorigen Sommer innerhalb einer Woche gestorben, Grüning am 23., Rihm am 27. Juli.
Einen Tag nach Grünings 83. Geburtstag haben Pflumm und Bauni diesen Zyklus in Berlin bei Ultraschall, dem Festival für neue Musik, getragen von Deutschlandfunk Kultur und Radio 3 des RBB, kuratiert von Rainer Pöllmann und Andreas Göbel, noch einmal aufgeführt. Es sind Lieder der Milde, die verloren geben, was nicht zu halten ist, die einen Tonfall wachrufen, ohne zu zitieren, die Vertrautes elliptisch umkreisen, es aber nicht als Erborgtes aus zweiter Hand benutzen.
Bauni war Reimann eng verbunden
Und vor allem an Aribert Reimann, dem Bauni über Jahrzehnte hinweg eng verbunden war, erinnert dieses Konzert im Heimathafen Neukölln. Der Komponist war am 13. März, Rihms letztem Geburtstag, gestorben. Und aus dessen Nachlass förderte Bauni „Drei Gedichte von Paul Celan“ und eine Violinsonate vom Februar 1957 zutage. Der Komponist war nicht einmal 21 Jahre alt, als er beides schrieb. Er vertonte Celan, lange bevor es in den Siebziger- und Achtzigerjahren geradezu Mode wurde, und bewies damals schon ein unerhörtes Formgefühl für sprachliche Diktion in der Musik.
Die Violinsonate, deren Anfang mit Wucht in die Luft gemeißelt ist, spielt Viviane Hagner voller Glut und Phantasie, auch mit leise bebender Tonschönheit in den lyrischen Entgegnungen auf die spätkubistischen Ausbrüche. Man hört dieses Frühwerk mit Bewunderung für das Können, für die plastische Erfindung, die Disposition für Kontraste und die spannungsreiche Gliederung von Zeit.
Gegen diese fast siebzig Jahre alte Sonate mit ihrem entschlossen artikulierten Sprechen fällt vieles, was sonst bei Ultraschall zu hören ist, ab als musikalisches Nuscheln junger Autorinnen und Autoren, die nicht einmal beim Reden – geschweige denn vorab – zum Verfertigen von Gedanken kommen. Dramaturgien des Vagen und des verzagten Auströpfelns finden sich allüberall in diesen Ensemble-Etüden des gegenwärtigen Konservatoriumsakademismus, der das Programm von Ultraschall seit Jahren dominiert.
Trotzdem gibt es Werke, die herausragen: zum Beispiel die Orchesterelegie „Frau, warum weinst Du? Wen suchst du?“ der Koreanerin Younghi Pagh-Paan. Das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin arbeitet unter den gewandten Händen der vorbildlich standfesten Dirigentin Anna Skryleva die Benommenheit heraus, die Maria von Magdala nach dem Tod Jesu befallen hat, sodass sie den Auferstandenen am Ostermorgen nicht erkennt. Sphärisch hell ist das hohe Gewölbe dieser Klänge – doch sie verharren in der lähmenden Starre des Karsamstags, der nicht aus der Welt weichen will.
Beim Showstopper grölt der Saal
Den meisten Spaß, der sogar Zwischenapplaus im Radialsystem provoziert, aber macht dem Publikum das tiefsinnig-heitere Melodram „Was wird hier eigentlich gespielt?“ der Komponistin Iris ter Schiphorst und der Schriftstellerin Felicitas Hoppe. Vor sieben Jahren hatten die beiden Autorinnen beim Ensemble Modern erstmals eine Collage unabhängig voneinander geschriebener Werke zusammengestellt, an der sich das oft Unverbundene, Beziehungslose nicht verdecken ließ. Was jetzt für das Ensemble Ascolta entstanden ist und 2023 schon in Donaueschingen zu hören gewesen war, strotzt vor Kreuz- und Querbezügen, kabarettistischen Pointen und intertextueller Brillanz.
Hoppe, die ihren Text selbst spricht, verwebt Grimms Märchen vom eigensinnigen Kind, dessen Ärmchen noch nach der Bestattung immer wieder unbotmäßig aus der Erde ragt und von der Mutter mit der Rute gezüchtigt werden muss, mit dem Orpheus-Mythos des Singens in der Unterwelt. Dazu stellt die Sängerin Salome Kammer immer wieder Bezüge zum anbefohlenen und in kartellartig eingefahrenen Machtstrukturen verwalteten Eigensinn der Neuen Musik her.
Das Publikum prustet unwillkürlich los, wenn das eigensinnige Kind heute „Dirigent*in“ werden muss; es lacht laut auf beim Orpheus-Ausruf: „Nur – wie klagt man gegen die Götter der Donaueschinger Unterwelt?!“. Nach den Erwägungen „Affirmation“ und „Hyperaffirmation“ stimmt das Ensemble Ascolta unter der Leitung von Catherine Larsen-Maguire „Every breath you take“ von The Police an, wozu skandiert wird: „Dreh dich nicht um! Die Polizei geht um. Und wer sich umdreht oder lacht, der kriegt den Buckel voller Schacht.“ Das ist der Showstopper. Der Saal grölt. Der Witz sitzt. Mit popkulturellen Mitteln ist das quasi Obrigkeitsstaatliche einer verordneten Verweigerung in der Ästhetik des Donaueschinger Sektentums bloßgestellt worden.