Angeblich neues Werk entdeckt : Ein Michelangelo auf Leinwand?
Es gehört zu den berühmtesten Kunstwerken der Welt: das Jüngste Gericht von Michelangelo im Vatikan. Der Renaissance-Forscherin Amel Olivares zufolge habe Michelangelo das Motiv seines Freskos aus der Sixtinischen Kapelle auch als Ölgemälde auf Leinwand geschaffen, es galt aber mehr als 100 Jahre als verschollen.
Sie nennt das 96 mal 81 Zentimeter große Werk „Das Jüngste Gericht von Genf“, weil es dort in einem Banktresor aufbewahrt wird. Es wäre das einzige Gemälde, das Michelangelo in dieser Technik geschaffen hat, alle anderen wie der sogenannte „Tondo Doni“ oder die „Manchester-Madonna“ sind auf Holz gemalt. Und obwohl das Bild 33 direkt von dem Sixtina-Fresko übernommene Figuren aufweist, darunter ein Selbstporträt Michelangelos, das allerdings an einer anderen Stelle als der abgezogenen Haut des Apostels Bartholomäus eingefügt ist, überwiegen doch die Differenzen und läuten die Alarmglocken: Kaum hätte sich Michelangelo auf dem Leinwandbild selbstsicher unter die vor der Verdammnis Geretteten eingereiht, vor allem aber nicht mit Gesichtszügen, die genau dem von seinem Schüler Daniele da Volterra gemalten Porträt entsprechen, das heute im New Yorker Metropolitan Museum aufbewahrt wird.
Vom selben Maler Da Volterra stammen auch die „Unterhosen“ und Lendentücher der ursprünglich nackten Heiligen und Apostel, die dem Fresko durch den Michelangelo verhassten päpstlichen Legaten verordnet wurden. Michelangelo selbst hätte diese von ihm als Schande empfundene Zwangsbekleidung niemals auf eine Kopie nach seinem vatikanischen Hauptwerk im Status unschuldiger Nacktheit angebracht.
Selbst nach vielen Analysen gibt es kein wissenschaftliches Urteil zur Echtheit - stilistisch spricht vieles dagegen
Laut Olivares handele es sich bei dem Werk um ein Geschenk an den Maler Alessandro Allori, der es als Vorlage für ein annähernd identisch komponiertes Altarbild in Santissima Annunziata in Florenz verwendete. Eine detaillierte Beschreibung des Genfer Bildes fand sich 1792 im Florentiner Staatsarchiv. 2015 wurde es restauriert und seither vielfältig wissenschaftlich untersucht – ohne überzeugendes Ergebnis. Es wird genau umgekehrt sein: Das Genfer Bild dürfte eine Leinwand-Kopie nach Alloris Florentiner Altarbild nach Michelangelos Sixtinischem Fresko sein.
Denn stilistisch überwiegen eindeutig die gravierenden Unterschiede zum monumentalen Jüngsten Gericht von 1546, zuvorderst: Der Auferstandene auf dem Genfer Bild trägt Dreitagebart, den Christus bei Michelangelo nie trägt, nicht in Zeichnungen, nicht in Tafelbildern, erst recht nicht in Fresken.
Vor allem aber in den für Michelangelo sehr untypischen spitzen Dreiecksnasen, dem Hang zur Verknüpfung der Figurenerzählung und Rundung der Komposition sowie den manieristisch willkürlich aufploppenden Muskel-Buckeln auf den Oberkörpern zeigt sich, das das „Jüngste Gericht von Genf“ eher nicht von Michelangelo stammt.