100. Todestag Anatole Frances : Enttäuschung des Meisters über Proust
Im Juni 1921, wenige Monate bevor Anatole France als viertem Franzosen der Literaturnobelpreis zugesprochen wurde, erinnerte sich ein anderer französischer Schriftsteller, der diese Auszeichnung nicht erhalten sollte, in einem Brief an einen Kollegen einer weit zurückliegenden Zeit, „früher, als ich Monsieur France, den ich seither nicht wiedergesehen habe, jeden Tag traf“. Das war in den Neunzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts, als der 1844 geborene France einen fast dreißig Jahre jüngeren Bewunderer fand – in Marcel Proust. Mit einem anonymen Brief hatte der damals noch nicht Achtzehnjährige im Mai 1889 dem etablierten Autor seine Bewunderung gestanden: „Seit vier Jahren lese ich Ihre göttlichen Bücher und habe sie wieder und wieder gelesen, bis ich sie auswendig konnte.“
Ein halbes Jahr danach begegneten sich beide erstmals persönlich in einem Pariser Salon, und von da an marschierten sie literarisch zehn Jahre lang Arm in Arm: France widmete Proust 1892 eine Novelle, Proust revanchierte sich 1893 auf gleiche Weise bei der Zeitschriftenpublikation seiner Erzählung „Violante oder Die mondäne Welt“, die wiederum drei Jahre später in sein erstes Buch „Freuden und Tage“ einging, für das France ein Vorwort beisteuerte, in dem er das Schreiben des Jüngeren so charakterisierte: „Plötzlich schwirrt durch die wonnevolle Schwüle ein Lichtpfeil, ein Blitz, der wie der Strahl des deutschen Arztes“ – gemeint war Röntgen – „die Körper durchdringt.“ Allerdings war France selbst verletzt: Proust hatte dieses, sein erstes Buch nicht ihm, sondern dem jung gestorbenen Freund Willie Heath zugeeignet, während er andere mögliche Widmungsträger, darunter „den berühmten und vielgeliebten Meister“ (also France) um Verständnis dafür bat: „Mögen sie bedenken, dass ein Lebender, so groß oder teuer er auch sein darf, erst nach einem Toten geehrt werden darf.“
Die Autorenfreundschaft endete nach dem gemeinsamen Einsatz für den verurteilten Leutnant Dreyfus, und nach Erscheinen des ersten Teils von Prousts Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ fällte France 1913 sein berühmt gewordenes Urteil über das später vieltausendseitige Werk: „Das Leben ist zu kurz und Proust zu lang“ – ein literarisches Todesurteil. Im Jahr nach dem Nobelpreis für France starb Proust mit nur einundfünfzig Jahren. „Von seinem Werk verstehe ich nichts“, lautete danach das letzte von Anatole France überlieferte Wort zu Marcel Proust: „Ich habe mich bemüht, ihn zu verstehen, doch es ist mir nicht gelungen. Das ist nicht sein Fehler, sondern meiner.“ Zwei Jahre nach Proust starb dann auch France, heute vor hundert Jahren. Er war als Lebender mit dem Literaturnobelpreis geehrt worden, noch bevor Proust, der längst viel Größere, den Tod gefunden hatte. Es ist, als hätte Proust ihn 1896 davor gewarnt. Heute ist Anatole France weitgehend vergessen. Proust aber lebt.