Erinnerung an den Holocaust : 75 Porträts gegen das Vergessen
Seine Stoßseufzer sind nicht zu überhören. Über das zu sprechen, was ihm als Kind passiert ist, fällt Maurice Gluck nicht leicht. Drei Jahre war er alt, als seine Mutter ihn von Antwerpen nach Brüssel brachte, um ihn vor den Nazis zu verstecken. Der Gewürzhändler Denis Van den Stock, ein gläubiger Christ, den Glucks Vater einige Jahre zuvor kennengelernt hatte, hatte sich bereit erklärt, das bedrohte jüdische Kind bei sich aufzunehmen. Sie komme gleich wieder, sagte Glucks Mutter, als sie ihren Sohn Mitte August 1942 bei Van den Stock und seiner Tochter Emma abgab. Als er realisierte, dass sie ihr Versprechen nicht hält, begann er zu weinen. Tagelang weigerte sich das Kind, zu essen oder zu trinken.
In der Eingangshalle der Europäischen Zentralbank hängt nun sein Porträt. Metergroß und hell ausgeleuchtet sieht man Glucks Gesicht, die hellblauen Augen, den kahlrasierten Kopf, die Nickelbrille, den ernsten Blick. Daneben sind weitere Fotografien von Holocaustüberlebenden zu sehen. Insgesamt 75 Porträts hat der Fotograf Martin Schoeller angefertigt, „Survivors: Faces of Life after the Holocaust“ hat er seine Serie genannt.
Vor fünf Jahren sind die Fotos in der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem entstanden, ausgestellt wurden sie bislang unter anderem in New York, in Maastricht und in der Zeche Zollverein in Essen. Dass die „Survivors“-Serie nun in der Europäischen Zentralbank zu sehen ist, hängt auch mit dem Ort zusammen: Die in den zwanziger Jahren entstandene Großmarkthalle des modernen Architekten Martin Elsaesser, die heute Teil des Gebäudekomplexes der Zentralbank ist, spielte bei der Vertreibung und Vernichtung der Juden aus Frankfurt und der Umgebung eine zentrale Rolle. Mehr als 10.000 Juden wurden von der Großmarkthalle aus deportiert. Im Keller des Gebäudes wurden die Menschen von der Gestapo zusammengetrieben, geschlagen, beschimpft, durchsucht und dem wenigen, das sie noch bei sich trugen, beraubt. In Zügen transportierte man sie in die Lager, aus denen kaum einer lebend zurückkehrte.
Aus Gesprächen wurden Freundschaften
Mit einer Gedenkstunde wurde am Montagabend an die Verfolgten erinnert. Christine Lagarde, die EZB-Präsidentin, mahnte, dass es nicht mehr genüge, sich an die Schoa zu erinnern und über die Verbrechen zu reflektieren, sondern wichtiger geworden sei, sich aktiv gegen den immer stärker werdenden Populismus und die Intoleranz zu stellen. Und sie dankte dem heute 85 Jahre alten Maurice Gluck dafür, dass er den Mut habe, über sein Schicksal zu sprechen.
Martin Schoeller, der Fotograf der „Survivors“-Serie, ist in Frankfurt aufgewachsen, seit vielen Jahren lebt er in New York. In seiner Jugend war er häufig in der Großmarkthalle, erzählt er. Nach durchfeierten Nächten in Frankfurter Nachtklubs ist er dorthin gezogen, hat einen Kaffee getrunken, etwas gegessen. Dass die Großmarkthalle ein Ort war, an dem Juden zusammengepfercht wurden, um sie zu deportieren, war ihm damals nicht bewusst.
Mit seiner Serie will Schoeller betragen, dass die Erinnerung an die Verbrechen nicht verblasst. Die Gespräche mit den Porträtierten hätten ihn damals sehr berührt, sagt der Fotograf. Zwischen ihm und Maurice Gluck sei das Verhältnis von Anfang an besonders gewesen. Sofort habe es „Klick gemacht“, eine Freundschaft sei entstanden. Gluck hat Schoeller seitdem mehrmals zu Eröffnungen der „Survivors“-Schau begleitet.
Seine Mutter hat der Holocaustüberlebende niemals wiedergesehen. Eigentlich wollten die Eltern ihrem Sohn nach Brüssel folgen, doch weil die Nazis ihre Kontrollen immer weiter verstärkten, trauten sie sich nicht mehr, Antwerpen zu verlassen. Im Oktober 1942 wurden sie nach Auschwitz verschleppt, im Dezember 1943 wurde Glucks Mutter dort ermordet. Sein Vater aber überlebte, wurde im Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar von amerikanischen Truppen befreit. Die Todesmärsche, die ihn nach Buchenwald gebracht haben, habe er nur überlebt, weil er auf dem Weg immer wieder den Namen seines Sohnes und die Telefonnummer des Gemüsehändlers, bei dem er versteckt war, vor sich hersagte, hat der Vater Gluck später berichtet.
Als die beiden nach Kriegsende wieder aufeinandertrafen, war das für den Jungen ein Schock. „Wie ein Skelett“ sah sein Vater aus, abgemagert, unrasiert, verdreckt. Gluck musste schreien, weinen. An die ersten Wochen nach dem Wiedersehen könne er sich heute nicht mehr erinnern, sagt er. Die Entwicklung seit dem Hamas-Attentat vom 7. Oktober mache ihm Angst. „Juden werden wieder angegriffen, überall auf der Welt, in Europa, in Amerika. Der Antisemitismus ist zur Pandemie geworden.“