Krieg in der Ukraine : Pessimismus

Bloß nicht in Kategorien von Freund und Feind denken, war lange die Devise hierzulande. Jetzt erfahren wir, dass Pessimismus doch ein guter Ratgeber gewesen wäre.
Es liegt nicht im Interesse Russlands, die Ukraine zu überfallen (Sahra Wagenknecht). Mit der Logik des Kalten Krieges, gut und bös, schwarz und weiß, wird man hier nicht weiterkommen (Ralf Stegner). Wir müssen alles unterlassen, was dazu führt, dass diese Kriegsdynamik weiter angetrieben wird (Rolf Mützenich). Die US-Geheimdienste sagen, die Russen würden einmarschieren, ich glaube das nicht (Gregor Gysi). Lügenmärchen des US-Geheimdienstes (Sevim Dagdelen). Manche haben geradezu Freude daran, den Krieg herbeizureden (Ralf Stegner). An der Eskalation haben alle Seiten Anteil (Sahra Wagenknecht). Ich erhoffe mir von weiteren Gesprächen etwas (Rolf Mützenich). – Alles Äußerungen der vergangenen Tage, alle falsch, entbehrlich, blauäugig. Die Belegstellen für derlei sind leicht vermehrbar. Jetzt sind viele erstaunt. Krieg? Putin als „Kriegsverbrecher“ (Rolf Mützenich). Das hätten wir nicht gedacht.
Vom Rückzug gesprochen, Angriff befohlen
Doch weshalb denn hätten wir das nicht gedacht? Weshalb sind wir denn „in einer anderen Welt aufgewacht“ (Annalena Baerbock)? Weil wir zuvor geträumt haben? Man kann nicht behaupten, Wladimir Putin habe seine Gesinnung und seine Absichten camoufliert. Seit Langem hatte er dargelegt, wie er die Sache mit „Making Russia Great Again“ und mit der Ukraine sieht. Er hat mehrfach bekundet, ihr kein Existenzrecht zuzubilligen.
Dachte man, das seien nur historisch fantasievolle Texte? Während der Pressekonferenz mit Kanzler Scholz (SPD) hat Putin die Lüge vom Genozid unwidersprochen wiederholen können, der an Russen in der Ukraine stattfinde. Er hat gleichzeitig von Rückzug gesprochen und Angriff befohlen. Und galt dennoch weiter als Mann, mit dem zu diskutieren sinnvoll sei. Weil Diskussionen, die irreführend „Verhandlungen“ genannt werden, etwas bewirken, oder weil man gar nichts anderes hat als sie?
Prozesse nach Gusto des Regimes
Vom Lügner wurde bis zuletzt vermutet, vielleicht sei er doch zum Einlenken bereit. Dabei hat er ja nicht nur gelogen, er hat auch gehandelt. Lange ist bekannt, dass russische Bürger, die dem Regime nicht passen, im Inland wie im Ausland ermordet und vergiftet werden: Baburowa, Juschenkow, Markelow, Politkowskaja, Nemzow, Litwinenko, Estemirowa, Nawalny; die Liste ist noch länger. In russischen Gefängnissen wird gefoltert. Rechtsstaatliche Prozesse gibt es nur nach dem Gusto des Regimes. Aber dennoch herrschte bei vielen inständig besorgte Gutgläubigkeit: Beteuerungen, man müsse sich in die Russen, konkret: Putin, hineinversetzen, er fühle sich halt bedroht, Russen in anderen Ländern genössen keine gleichen Rechte, man habe Russland einst versprochen, die NATO nehme keinen an es angrenzenden Staat auf, unsere Geschichte verbiete, den Ukrainern Defensivwaffen zu liefern und so weiter. Bloß nicht in Kategorien von Freund und Feind denken, immer versuchen, die andere Seite zu verstehen. Jetzt erfahren wir, dass Angst oder – sagen wir – Pessimismus doch ein guter Ratgeber gewesen wäre.